Armutsforscher Butterwegge fürchtet durch Corona härtere Verteilungskämpfe

Angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise befürchtet der Ungleichheits- und Armutsforscher Christoph Butterwegge eine Verschärfung gesellschaftlicher Verteilungskämpfe. „Früher oder später wird die Frage beantwortet werden müssen, wer die 1,5 Billionen Euro bezahlen soll, die jetzt für Hilfsmaßnahmen und zur Konjunkturstützung ausgegeben werden“, sagte der Politikwissenschaftler dem Evangelischen Pressedienst). Die gigantischen Summen, die derzeit bewegt würden, lieferten sowohl Befürwortern als auch Gegnern des Sozialstaates Argumente: „Erstere weisen zu Recht darauf hin, dass Deutschland gerade jetzt, in der Ausnahmesituation einer Pandemie, seine Handlungsfähigkeit bewiesen und daher in Zukunft allen Grund hat, auf die öffentliche Daseinsvorsorge in einem gut ausgebauten Sozial- und Gesundheitswesen zu setzen“, sagte Butterwegge. Letztere behaupteten hingegen, dass uns die hohen Kosten der Krise zwängen, den Gürtel künftig enger zu schnallen, „auch und gerade bei den Sozialausgaben.“ Welche dieser Argumente im politischen Raum mehr Gehör fänden, sei auch „vom Einfluss mächtiger Lobbygruppen“ abhängig, betonte Butterwegge. Deshalb sei er pessimistisch, dass Empathie und Solidarität mit den Schwächsten zu dauerhaften Lehren der Corona-Krise würden. „Wenn wir tatsächlich eine zweite Welle der Pandemie erleben, kann das schnell in eine sozialdarwinistische Richtung umschlagen“, glaubt der Ungleichheitsforscher, der bis zu seiner Emeritierung 2016 an der Universität Köln lehrte. Dann würden die Armen womöglich noch weiter ins Abseits gedrängt. Das tägliche GT/ET Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Göttingen täglich gegen 17 Uhr im E-Mail-Postfach In Hinblick auf knapp 13 Millionen Menschen, die in Deutschland laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, fordert Butterwegge Sofortmaßnahmen, um coronabedingte Härten abzumildern, etwa „einen monatlichen Ernährungszuschlag von 100 Euro für alle Menschen in der Grundsicherung, sei es Hartz IV oder die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“. Darüber hinaus müsse der Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro spürbar angehoben werden, „damit die Menschen in Würde von ihrer Arbeit leben können“. Seit seiner Einführung 2015 sei der Mindestlohn gerade einmal um 10 Prozent gestiegen, deutlich weniger als die Lebenshaltungskosten. Zudem fordert Butterwegge, die für den 1. Januar 2021 beschlossene weitgehende Abschaffung des Solidaritätszuschlags zurückzunehmen. Eine Streichung bedeute für den Staat Ausfälle von rund 19 Milliarden Euro. „Geld, das wir dringend als einen 'Corona-Soli' zur Armutsbekämpfung gebrauchen können.“ Lesen Sie auch: Corona-Liveblog: Die Lage in Göttingen und der Region Zu den aktuellen Corona-Massenausbrüchen beim Fleischkonzern Tönnies im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück (Kreis Gütersloh) und einem Hochhauskomplex im niedersächsischen Göttingen sagte Butterwegge: „Beide Vorfälle zeigen, dass miserable Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen einer der größten Risikofaktoren dieser Pandemie sind.“ Er kritisierte, dass die weithin gängige Leih- und Werkvertragsarbeit in der Fleischindustrie erst ab Januar kommenden Jahres gesetzlich verboten werden soll: „Da gibt die Bundesregierung solchen Ausbeutern und Leuteschindern wie Herrn Tönnies unnötig viel Zeit, ihr Geschäftsmodell den neuen Anforderungen anzupassen.“ „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“: Zudem bemängelte Butterwegge, dass der Mietmarkt durch Investoren und Spekulanten zunehmend in eine Schieflage geraten sei: „Dass Menschen derart unwürdig und zugleich überteuert hausen müssen wie in dem Göttinger Hochhaus, hat auch damit zu tun, dass der Staat seine Verantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge vernachlässigt hat, zu der auch die Schaffung bezahlbarer Wohnungen gehört.“ Deshalb müsse sich der Staat - etwa nach dem Vorbild der Stadt Wien, die Eigentümerin von rund 220.000 Wohnungen ist – viel mehr beim Bau und beim Ankauf von Wohnraum engagieren. Es mache einen Riesenunterschied, „ob jemand in einer heruntergekommenen Mietskaserne oder einem großzügigen Eigenheim lebt. Denn in unserer Gesellschaft gilt nun einmal: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – sei es zum Abitur, zum Studium oder zur beruflichen Karriere.“ Von EPD