Corona: Medinetz Göttingen unterstützt Menschen ohne Krankenversicherung

Das Medinetz Göttingen, ehemals Medizinische Flüchtlingshilfe, berät seit 1994 anonym und kostenlos Menschen ohne Krankenversicherung. Zu den Klienten zählen Papierlose, Migranten und Wohnungslose. Gerade während der Covid-19-Pandemie würden diese Menschen besonders abgehängt, erklärt Polina Tarakanova, die in Göttingen Medizin studiert und Mitglied des Vereins ist. Lesen Sie auch Hilfsorganisationen fürchten in Corona-Krise Versorgungslücken Medizinische Flüchtlingshilfe hat große Geldsorgen Anonymem Krankenschein droht das Aus „Die namentliche Meldepflicht bei der Corona-Testung ist ein großes Problem für die Menschen, die auf uns zukommen“, sagt Tarakanova, denn: Die Leute fürchten Abschiebungen durch die Weitergabe ihrer Daten an die Ausländerbehörde. Auch aus den Corona-Risiko- und Prioritätsgruppen für die Impfung fallen die Klienten des Medinetz deswegen raus. Dieser Ausschluss sei nicht nur ein gesundheitliches Risiko, sondern auch im Sinne des staatlichen Interesses an sinkenden Infektions- und Sterbezahlen nicht vertretbar, erklärt das Medinetz. Auf eine Anfrage des Integrationsrats an den Ausschuss für Soziales, Wohnungsbau, Gesundheit und Integration bezüglich der Problematik antwortet Stadträtin Petra Broistedt (SPD): Die Sorge vor einer Weitergabe personenbezogener Daten zum Zwecke „ausländerrechtlicher Zwangsmaßnahmen“ werde seitens der Ausländerbehörde nicht gesehen. Daten von Corona-Infizierten würden aber unter anderem an den zuständigen Fachbereich der Stadt und die Polizeiinspektion Göttingen weitergegeben. Zusammenarbeit mit dem Migrationszentrum: Aktuell hat der Verein nach eigenen Angaben fünfzehn Mitglieder, darunter Studierende und Ärztinnen. Bei rechtlichen Fragen und Kontaktvermittlungen arbeitet das Medinetz außerdem eng mit dem Göttinger Migrationszentrum zusammen. „Entweder kommen die Personen zu uns, weil sie keine Krankenversicherung und einen akuten Notfall haben, oder zum Migrationszentrum, um sich zum Bleiberecht zu informieren – da bekommen sie dann die Information, dass wir existieren“, sagt Tarakanova. Akute Notfälle: Diese und akute Schmerzzustände werden vom Asylbewerberleistungsgesetz abgedeckt. Dringende medizinische Versorgung benötigten laut Medinetz aber weitaus mehr Fälle: „Man ist irgendwann sensibilisiert im Hinblick auf die eigenen Privilegien“, sagt Janna Winter, ebenfalls Medizinstudentin und seit mehr als einem Jahr im Verein tätig. „Wir können zum Arzt gehen, wenn wir einen Hautausschlag haben – diese Menschen bekommen nicht einmal bei lebensbedrohlichen, chronischen Erkrankungen medizinische Versorgung“, erklärt sie. Kostenübernahme durch Spendengelder: Bis zu vier Menschen suchen wöchentlich Unterstützung beim Medinetz. Oft handelt es sich um einmalige Beratungen oder die Kostenübernahme von ausgestellten Scheinen. Insbesondere bei schwangeren Frauen dauere die Begleitung aber häufig bis zu einem Jahr, so Winter. Der Leistungsumfang des Vereins reicht dabei von der Suche nach passenden Übersetzern bis zur halben oder vollen Kostenübernahme der Krankenhaus- und Arztbesuche. Das sei nur durch Spendengelder möglich. Diese kämen zum Teil in Form von Zuschüssen der Stadt; im vergangenen Jahr waren das etwa 5000 Euro. Das decke aber nicht mal ein Drittel der Ausgaben, erklärt Tarakanova. Denn eine Geburt koste zwischen 2000 und 4000 Euro. Überwiegend müssten sie sich also auf Spenden von Privatpersonen verlassen. „Häufig fehlt es in den Arztpraxen und Notaufnahmen an Aufklärung“, sagt Winter. Dass personenbezogene Daten nicht weitergegeben werden müssen und sie nicht allein auf den Kosten sitzen bleiben, das sei Ärzten oft nicht bewusst. Dort anzusetzen ist eines der Ziele des Vereins, denn um Praxen, Labore und Krankenhäuser für eine Kooperation zu gewinnen, sei das Schließen dieser Informationslücke wichtig. Medinetze gibt es seit 1994 bundesweit, Mitglieder sind überwiegend Medizinstudierende. Die Vereine sehen sich als Übergangsmodell, bis es eine politische Regelung zur Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung und Aufenthaltsstatus gibt. Einige Medinetze haben bereits Preise gewonnen, darunter das Medinetz Dresden, das 2009 mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie ausgezeichnet wurde, das Medinetz Mainz, das, ebenfalls 2009, den Helmut-Simon-Preis gegen Armut und soziale Ausgrenzung erhielt und das Medinetz Bonn, das 2010 den Integrationspreis der Stadt Bonn bekam. Das Göttinger Medinetz kann mit Spenden an die Medizinische Flüchtlingshilfe e.V., mit der IBAN: DE 38 26050001 0000 141598, unterstützt werden. Anonymer Krankenschein nicht fortgeführt: Ein kurzer Erfolg für den Verein war der 2015 in Göttingen eingeführte Anonyme Krankenschein. Damit war es Personen ohne Aufenthaltsstatus bis 2018 möglich, ohne Angabe von Personalien behandelt zu werden. Obwohl die Evaluation des Landes Niedersachsen am Ende positiv ausgefallen sei und weniger ausgegeben wurde als gedacht, wurde das Projekt nicht fortgeführt – der Regierungswechsel von SPD und Grünen zu SPD und CDU in der Landesregierung kam dazwischen, erklärt Tarakanova. In einigen anderen Städten habe sich das Modell ebenfalls bewährt und laufe weiter, beispielsweise in Freiburg. Für das Jahr 2021 wünscht sich das Medinetz wie jedes Jahr, dass es nicht mehr gebraucht wird. „Unsere Arbeit müsste zu einer staatlichen Institution umgestaltet und nicht von Freiwilligen gestemmt werden“, erklärt Tarakanova. Insbesondere in Zeiten einer Pandemie sei das notwendiger als je zuvor. Von Yasmin Dreessen