Erziehungswissenschaftler Stieve: „Kinder haben ein Recht auf Mitsprache“

Zum Auftakt eines überregionalen Fachtags zum Thema frühe Kindheit und Demokratie hat Erziehungswissenschaftler Prof. Claus Stieve am Montag einen öffentlichen Zoom-Vortrag gehalten. Darin ging es um „Erfahrungen und erste politische Fragen. Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung eines politischen Denkens“. Aktuell zeige die Corona-Pandemie, dass gesellschaftliche und politische Ereignisse die Lebenssituation von Kindern unweigerlich beeinflussen, beschreibt die Uni Göttingen die Ausgangssituation. In Kooperation mit dem Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe), dem Fachdienst Kindertagesstätten der Stadt Göttingen und der Stiftung Adam von Trott organisierte die Georgia Augusta das Webinar. Lesen Sie auch Göttinger Kita-Stadtelternrat fordert schnelle Öffnung der Kitas Göttingen: Welche Corona-Maßnahmen gelten derzeit in Schulen und Kitas? Göttinger Kindertagespflege beklagt fehlenden Schutz Göttingen: Dezentrale und digitale Landesrunde der Mathe-Olympiade „Kinder haben ein Recht auf Mitsprache und Mitbestimmung“, betonte Stieve, Professor an der Technischen Hochschule in Köln. In seinem Vortrag ging er der Frage nach, wie Kinder ihre politische und historische Lebenssituation erfahren. Hierfür schilderte er seine Erkenntnisse aus zwei verschiedenen Perspektiven: dem strukturellen und dem situativen Ansatz. Demokratischer Kita-Alltag und zeitgeschichtliche Ereignisse: „Kita ist kein Schon-Raum“, betonte der Wissenschaftler und stellte drei Thesen auf, wie man mit Kindern sinnvoll in einen pädagogischen Dialog treten kann: „Kinder lernen im Alltag das, was ihre Umgebung ausmacht“, laute die erste These, aus der sich die Frage ergebe, wie man den Alltag partizipativ und demokratisch gestalten könne. „Es geht um Inhalte und Erfahrungen, die Kinder machen. Wo stolpern wir über Äußerungen der Kinder“, fragte der Wissenschaftler. Denn diese, so Stieves zweite These, gelte es anzuhören, ohne sie zu formen oder zu bewerten, um ihnen Raum zu geben. Als dritte These schlug der Erziehungswissenschaftler vor, Schlüsselsituationen als Anlass zu nehmen, Projekte mit den Kindern passend zu dem erlebten Ereignis durchzuführen. Dies könne beispielweise in Bereichen wie Umweltschutz, Migration oder Gleichberechtigung geschehen. „Demokratie beinhaltet den Versuch, neue Blickwinkel zu erhalten“, sagte Stieve. Heutzutage fände ein großer Teil der Kindheit in der Kita statt, an einem ein Ort, wo Demokratie gelebt werde. „Durch Stereotype und Gewohnheiten wird Politik erfahren“, erläuterte der Professor. Er wies darauf hin, dass Momente der Irritation oder des Staunens über bestimmte Situationen des menschlichen Zusammenlebens prägend für das politische Denken sein. Stieve leitete jahrelang eine Kita: Stieve, seit 2017 tätig an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften in Köln, arbeitete nach seiner Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher als Gruppenpädagoge in verschiedenen Kita-Einrichtungen. Nach dem er in Kassel, Bochum und Prag Erziehungswissenschaft, Philosophie und Germanistik studierte, war er mehrere Jahre selbst Leiter einer Kita. Das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) wurde 2007 gegründet und dient der fächerübergreifenden Erforschung der Kindheit und der Vernetzung vieler verschiedener Praxis-Akteure. „Der wechselseitige Transfer von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis und die gleichzeitige Rückspiegelung von Erfahrungen und Problemlagen aus der Praxis in die Forschung waren dabei von Anfang an die Leitidee der Arbeit“, so das Institut. Gefördert vom Land Niedersachsen, besteht das nifbe aus einem Koordinations- und Transferzentrum und fünf über das Flächenland verteilten regionalen Transferstellen. Mit einem Wissensportal, der Veröffentlichung von Publikationsreihen und der Organisation von landesweiten Tagungen und Kongressen ist das Institut insbesondere für die Aufbereitung von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Modellkonzepten für den landesweiten Transfer zuständig. Die einzelnen Transferstellen befinden sich in Emden, Hannover, Hildesheim, Lüneburg und Osnabrück. In enger Kooperation mit Erwachsenenbildungseinrichtungen seien die Akteure, so das Institut, insbesondere für die Umsetzung von landesweiten Bildungsschwerpunkten für Kindertagestätten zuständig. Als Wissenschaftler richtete er seinen Schwerpunkt auf die frühe Kindheit aus und war als Fachberater sowie als Projektmanager für die kommunale Vernetzung frühkindlicher Bildung tätig. An der Technischen Hochschule Köln baute er verschiedene Studiengänge im Bereich Pädagogik auf und etablierte den Beruf als staatlich anerkannten Kindheitspädagogen. Von Carlotta Heinzelmann