Feier zu 100 Jahren Erziehungswissenschaft in Göttingen

100 Jahre Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Göttingen – zum Jubiläum hat das Institut zu einer Feierstunde in den Alfred-Hessel-Saal des Historischen Gebäudes der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) eingeladen. Rund 100 Gäste blickten am Mittwochabend mit Rednerin Dr. Christiana Bers, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts, zurück auf die vergangenen 100 Jahre. Prof. Heinz Elmar Tenorth, Pädagoge von der Humboldt-Universität Berlin, sprach anschließend zum Thema „Göttinger Pädagogik im Kontext der deutschen Erziehungswissenschaft“. Seit eineinhalb Jahren arbeitet Bers in einem Forschungsteam daran, eine möglichst vollständige Geschichte der Erziehungswissenschaft in Göttingen zu schreiben. Einen Einblick in den Umfang dieses Themas gab sie am Mittwochabend: 20 Aktenordner, 198 Vorlesungsverzeichnisse, 35 Akten aus dem Universitätsarchiv und vieles mehr haben Bers und ihrer Kollegen bereits gesichtet. Bewegte Geschichte: In ihrem Vortrag beschäftigte sich Bers mit den Fragen: „Was macht ein Institut aus und wer und was gehört zu seiner Geschichte?“ Vier Aspekte benannte sie, um diese Frage zu beantworten – Lehre, Personen, Forschung und Orte. Ihre Kernthese: Die 100-jährige Geschichte der Erziehungswissenschaft in Göttingen ist eine Geschichte der „Diversifizierung und Expansion“. Die Anfänge waren bescheiden: 1920 wurden an der Universität neun Veranstaltungen angeboten – 2020 seien es 88, sagte Bers. In der Zwischenzeit habe das Institut grundlegende Wandlungen durchgemacht – von der Philosophie Herman Nohls in den 1920er-Jahren über eine „Vervielfältigungen der Perspektiven“ in den 1960er-Jahren hin zur modernen Erziehungswissenschaft mit Beratungsangeboten, Biographieforschung und gender-theoretischen Perspektiven. Dabei habe es die Erziehungswissenschaft nicht immer leicht gehabt, sagte Bers: Die Personalpolitik der Universität sei zumeist reaktiv geblieben und selten vorausschauend gewesen. Zwar wurde das Insititut in den 1960er- und 1970er-Jahren stark ausgebaut, doch es habe auch darüber hinaus vor allem Mangel gegeben – personell und räumlich. Denn auch in Hinsicht auf die Unterbringung kämpfe das Institut seit 100 Jahren mit einer Randlage, sagte Bers. Diese Randlage besteht noch heute – seit 2013 ist das Institut im Waldweg untergebracht, der für viele Studierende ein Synonym für „weit weg“ ist. Das Ende einer „Standarderzählung“? Einen Blick über Göttingen hinaus wagte Prof. Heinz Elmar Tenorth. Der Berliner Pädagoge kündigte an, er werde „eine Standarderzählung prüfen“ – nämlich, dass Göttingen Keimzelle der deutschen Pädagogik sei – und das tat er. Denn, so Tenorth, weder habe der erste Professor des Instituts, Herman Nohl, die Erziehungswissenschaft begründet, noch sei Göttingen, bei allen Leistungen, der Ursprung der deutschen Pädagogik. 1920, das Gründungsjahr des Instituts, sei eine Zäsur gewesen – aber kein Anfang, sagte Tenorth. Er erzählte von der Anfangszeit der Erziehungswissenschaft in Deutschland und ihrer ersten Krisen noch vor 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei zunächst vieles beim alten geblieben – erst die 1960er-Jahre hätten einen Wendepunkt gebracht, auf dem die Disziplin bis heute aufbaue. Die Illusion von verbündeter Demokratie und Forschung, die die 68er-Bewegung mit sich brachte, hätten sich dennoch schnell als Trugschluss erwiesen. Die moderne Erziehungswissenschaft bewertete Tenorth zwiespältig: Sie sei differenzierter denn je. Aber: Sie sei auch zu dem Schluss gekommen, dass es eine empirisch feststellbare Identität nicht gebe, und sie spüre den Wettbewerbsdruck. Einen Konsens quer durch die Disziplin gebe es nicht mehr – außer vielleicht, dass Forschung aus Göttingen immer noch herausragend sei. Das Göttinger Institut für Erziehungswissenschaft hat sieben Professuren. Die Arbeitsbereiche am Institut sind: „Allgemeine und historische Erziehungswissenschaft“, „Pädagogisches Handeln und Professionalität“, „Medienforschung mit dem Schwerpunkt Bildungsmedien“, „Schulpädagogik, empirische Unterrichtsforschung und Schulentwicklung“, „Schulpädagogik und empirische Schulforschung“, Pädagogische Sozialisationsforschung“ und „Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schul- und Unterrichtsforschung“. In Forschung und Lehre liegen die Schwerpunkte in den Bereichen „Allgemeine und historische Erziehungswissenschaft“, „Schulpädagogik und empirische Schul- und Unterrichtsforschung“ sowie „Lehr-Lernforschung und Sozialisationstheorie und -forschung“. Das Institut bietet die Studiengänge „Bachelor Sozialwissenschaften“ mit Fachwahl Erziehungswissenschaft, „Master Erziehungswissenschaft“ sowie die Lehramtsstudiengänge „Erziehungswissenschaftliche Kompetenz“ und „Bildungswissenschaften“ an. Mehr als 30 wissenschaftliche Hilfskräfte sind am Institut beschäftigt. Von Tammo Kohlwes

Jubiläum - Feier zu 100 Jahren Erziehungswissenschaft in Göttingen