Göttinger Corona-Forscherin Priesemann: So gelingt der Weg aus dem Lockdown

Wie sinnvoll sind baldige Lockerungen? Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat bereits einen Stufenplan zu Lockerungen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie skizziert. „Es ist gut, dass es einen Stufenplan gibt”, sagt Dr. Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Die Wissenschaftlerin zählt derzeit zu den gefragtesten Expertinnen der Corona-Forschung. „Dreiviertel-Lockdown“: Dennoch schwingt ein „Aber” in ihrer Antwort mit. „Die Menschen sind des Lockdowns müde”, sagt sie. Deshalb sei es richtig und wichtig, über Lockerungen zu diskutieren. Allerdings müssten dafür die Infektionszahlen weiter kräftig gesenkt werden. Wie weit, auch darüber müsse man diskutieren. „Wenn in einem kleinen Landkreis wie Göttingen lokal begrenzte Ausbrüche etwa in einem Seniorenheim die Zahlen nach oben drücken, dann muss man den Index genau betrachten und diskutieren, ob beispielsweise Schulen dann geschlossen werden müssen”, sagt sie. Priesemann ist seit November eine der Verfechterinnen eines harten, kurzen Lockdowns – der nicht verordnet wurde. „Derzeit haben wir einen Dreiviertel-Lockdown”, sagt die Wissenschaftlerin. Jetzt, nach drei Monaten, müsse man auch über andere flankierende Mechanismen als Schließungen nachdenken. Die Akzeptanz der Menschen sinke. Mehr Schnelltests, mehr Homeoffice: Aber welche Mittel gibt es noch? „Mehr Schnelltests” nennt sie als eines der Werkzeuge. Die Verfügbarkeit sei allerdings noch limitiert. Ein weiteres Instrument, dass noch nicht ausgeschöpft sei, sei das Homeoffice. Priesemann sieht bei der Arbeit in den eigenen vier Wänden durchaus noch Luft nach oben. „Die Umsetzung der Homeoffice-Regelung ist sehr spät in Gang gekommen”, sagt sie. Auch, dass Schulen zur Hälfte Kinder in Notbetreuung unterrichten, sei nicht als harter Lockdown zu bewerten. Lesen Sie auch Corona-Lockerungen: Niedersachsen stellt Stufenplan vor Göttingen: Altenheime weiterhin besonders von Corona-Infektionen betroffen Göttinger Politiker: Warum ist Niedersachsen Schlusslicht bei Corona-Impfungen? Welcher Index nötig sei, damit Öffnungen von Schulen, Geschäften und der Außengastronomie wieder möglich sind, das lasse sich eben nicht einfach auf eine Zahl reduzieren. „Man muss genau überlegen, was wo wieder geöffnet werden kann, auf keinen Fall sollte alles gleichzeitig gelockert werden”, sagt Priesemann. Ein Index von 50 sei nicht unbedingt die Messlatte für eine Lockerung. „Bei einem Index von zehn kommt man in einem recht sicheren Bereich”, sagt sie. In erster Linie aber gehe es darum, dass die Gesundheitsämter wieder nachvollziehen können, wer wen angesteckt hat, um die Infektionsketten zu stoppen. Ziel sei, dass die Intensivstationen der Krankenhäuser nicht volllaufen. Diese Ziele mit den Lockerungen in Einklang zu bringen sei nicht einfach. Priesemann spricht von einer „Güterabwägung.” Kontrolle über die Pandemie ist wieder möglich: Immerhin: Die Göttingerin ist zuversichtlich, dass es möglich ist, die Pandemie wieder unter Kontrolle zu bringen. Nicht nur die absoluten Zahlen, sondern auch die Geschwindigkeit, wie schnell sie sinken, müsse man berücksichtigen. Der Ansteckungswert „R” müsse „klar und deutlich unter eins gedrückt werden”. Das sei vor allem in Hinblick auf die sich ausbreitenden und höher infektiösen Virus-Mutationen wichtig. „In drei bis sechs Wochen wird sich die neue Variante auch in Deutschland deutlich ausgebreitet haben”, sagt die Forscherin. Viola Priesemann, Jahrgang 1982, studierte Physik und Neurowissenschaften. Laut Wikipedia forschte sie nach ihrem Studium an der Technischen Universität Darmstadt sie zur neuronalen Informationsverarbeitung an der École normale supérieure in Paris, am Caltech in Kalifornien und dem Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. 2013 wurde sie an der Universität Frankfurt im Fachbereich Physik promoviert. In ihrer Doktorarbeit beschäftigte sich Priesemann mit Ausbreitungsdynamik in neuronalen Netzen. 2014 wurde sie Fellow am Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen und bewarb sich 2015 erfolgreich für eine unabhängige Max-Planck-Forschergruppe, die sie derzeit am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen leitet. Im Zuge der Corona-Pandemie erforschte Priesemann die Ausbreitung und Eindämmungsstrategien des Coronavirus SARS-CoV-2. „Wenn wir zu früh lockern, gehen wir bald in den nächsten Lockdown”, sagt sie. Mit Schnelltests, Masken und einer konsequenten Nachverfolgung komme Deutschland mit moderaten Kontakteinschränkungen gut durch den Sommer. Bei hohen Fallzahlen brauche es aber wesentlich deutlichere Kontakteinschränkungen. Auch deshalb sei es wichtig, die Zahlen soweit zu drücken, dass die Infektionsketten nachvollziehbar sind. Denn: „Die Tests und Kontakt-Nachverfolgung sind sehr starke Instrumente der Eindämmung”, so Priesemann. Wann die Pandemie ein Ende habe? „Das kann ich nicht sagen.“ Von Britta Bielefeld