Göttinger Medizinethikerin sieht eine moralische Impfpflicht

Die Corona-Pandemie behält Deutschland weiter fest im Griff. Diskussionen rund um die erheblichen Freiheitseinschränkungen und das Thema Impfen dominieren neben dem intensiven Infektionsgeschehen die Berichterstattung in den Medien. Das Tageblatt hat Prof. Claudia Wiesemann, Medizinethikerin und Leiterin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen, zum Thema befragt. Frau Wiesemann, was ist Ihr medizinethischer Blick auf die Themen Corona-Impfung und Impfpflicht? Mit Blick auf die Impfung muss man zwischen einer moralischen und einer staatlichen Impfpflicht unterscheiden. In moralischer Hinsicht, so meine ich, kann man eine Pflicht zur Impfung durchaus bejahen. Die Impfung selbst ist ganz offensichtlich sehr gut verträglich. Sie zeigt keine wesentlichen Nebenwirkungen, außer bei einigen Menschen mit sehr hohem Allergiepotenzial. Um das, was die Virologen Herdenimmunität nennen, zu erreichen, müssen wir uns gemeinsam anstrengen. Immunität ist ein Gemeinschaftsgut, das nur durch unser aller Tun erreicht werden kann. In dieser Hinsicht haben wir alle eine moralische Verpflichtung, uns impfen zu lassen. Denn nur dann, wenn sich ausreichend viele Menschen impfen lassen, werden auch die beschützt sein, für die es nicht möglich ist, sich impfen zu lassen – etwa wegen einer Immunschwäche aufgrund einer anderen Erkrankung. Keine Rechtfertigung für Corona-Pflichtimpfung: Davon unterscheiden muss man eine staatliche Impfpflicht. Für diesen Eingriff in die individuellen Freiheiten braucht es stärkere Argumente. Dazu gehört etwa, dass damit tatsächlich nur so lebensbedrohliche Folgen für viele Menschen in der Bevölkerung abgewendet werden können oder dass nur so Menschen geschützt werden können, die sich selbst nicht schützen können. Im Moment sehe ich keine ausreichende Rechtfertigung für eine solche staatliche Impfpflicht. Ich denke, die Bereitschaft in der Bevölkerung ist ausreichend, um den sogenannten Herdenschutz zu erreichen. Gegner der Corona-Impfung argumentieren oft mit möglichen Nebenwirkungen, Sie sprechen vor sehr geringen Nebenwirkungen. Bitte erklären Sie. Es gibt, glaube ich, keine Impfung in der Geschichte der Menschheit, die so genau beobachtet und kontrolliert wurde wie aktuell die Impfung gegen das Corona-Virus. Weltweit sind schon Millionen Menschen geimpft worden. Ernsthafte Nebenwirkungen sind bisher nur aufgetreten bei Menschen mit bestehendem, hohem Allergiepotenzial und waren im Übrigen auch behandelbar. Ich denke, man kann sagen, dass diese Impfung sehr gut verträglich ist und dass man sie ohne Einschränkung empfehlen kann. Lesen Sie auch: Schwierige Entscheidungen im Klinikalltag – das Ethikkomitee der UMG hilft seit zehn Jahren In der Corona-Pandemie müssen zahllose Menschen mit erheblichen Einschränkungen leben und sind teilweise in ihrer Existenz bedroht. Wie blicken Sie als Ethikerin darauf? Da ist als erstes die Pflicht des Staates zum Lebensschutz zu nennen. Lebensschutz ist ein hochrangiges Gut, und wir sehen ja mit großer Besorgnis, dass eine Corona-Infektion für Teile der Bevölkerung durchaus lebensbedrohliche Züge annehmen kann. Auf der anderen Seite steht die Pflicht des Staates, die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu respektieren und zu schützen. Maßnahmen gegen die Pandemie greifen im Augenblick sehr stark in diese Freiheiten ein. Lebensschutz und Freiheitsschutz sind aber keine prinzipiellen Gegensätze: Wären unsere Krankenhäuser komplett überlastet mit der Behandlung von Coronakranken, würden alle anderen Kranken auch große Nachteile erleiden, weil sie nicht mehr behandelt werden könnten. Und Gesundheit ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Ausübung bürgerlicher Freiheiten. Insofern wird der Lebensschutz in einer Pandemie auch zu Recht als hochrangiges, andere Güter übertrumpfendes Gut eingeschätzt. Claudia Wiesemann ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Sie ist Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission Lebenswissenschaften sowie weiterer Arbeitsgruppen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Von 2012 bis 2020 war sie Mitglied des Deutschen Ethikrats, seit 2016 in der Funktion der Stellvertretenden Vorsitzenden. Sie hat Medizin, Philosophie und Geschichte studiert und in Medizingeschichte an der Universität Münster promoviert. In der Zeit von 1985 bis 1988 arbeitete sie als Assistenzärztin in der Kardiologie, Pulmologie und Intensivmedizin. Von 1990 bis 1998 war sie Assistentin und Oberassistentin am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie sich 1995 für Geschichte und Ethik der Medizin habilitierte. Claudia Wiesemann war von 2010 bis 2016 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und von 2002 bis 2012 Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin. Corona-Einschränkungen: Folgeprobleme mitberücksichtigen: Aber natürlich müssen wir auch Folgeprobleme in Betracht ziehen. Etwa, dass die wirtschaftliche Existenz einer Person ruiniert wird und sie womöglich aus diesem Grund noch erkrankt oder vielleicht sogar Suizid begeht. Das wären extreme Folgen eines wirtschaftlichen Lockdowns. Solche Folgen muss die Politik mitbedenken. Es muss deshalb immer der kleinstmögliche Eingriff in die menschliche Freiheit gewählt werden. Von Steffen Kahl