Göttinger Soziologe: Depressive Spitzensportler und die Rolle der Presse

Sportsoziologe Dr. Felix Kühnle von der Universität Göttingen beschäftigt sich mit dem Thema „Depression im Spitzensport“ und ist jetzt für seine Dissertation mit dem Wissenschaftspreis 2019/20 des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ausgezeichnet worden. Im Tageblatt-Interview erläutert er, worum es in seiner Forschung geht – und warum der Fall des Fußball-Nationaltorhüters Robert Enke, der sich das Leben genommen hat, für seine Studien von Bedeutung ist. Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer forscherischen Tätigkeit? Ich habe einen soziologischen Zugang zum Thema. Es geht um die Tatsache, dass über Depressionen im Spitzensport seit geraumer Zeit sehr viel berichtet und geschrieben wird, unter anderem im Zuge der Fälle von Robert Enke, Sebastian Deisler und Sven Hannawald. Ich erforsche demgemäß nicht, welche gesellschaftlichen Mechanismen und biografischen Dynamiken zur Depression von Spitzensportlern führen können, sondern wie das Thema kommuniziert wird. Lesen Sie auch Göttinger Universität verabschiedet Präsident Reinhard Jahn Homeoffice wegen Corona: Diese Tools brauchen Studenten im digitalen Studium jetzt Dr. Felix Kühnle von der Uni Göttingen erhält DOSB-Wissenschaftspreis Wie kann man sich das konkret vorstellen? Wenn ein Athlet eine schwierige Phase durchläuft und einen Leidensdruck entwickelt, sich womöglich selbst eine Depression oder einen Burnout zuschreibt, wird er über sein Problem gerade auch dadurch etwas in Erfahrung bringen, dass er den gesellschaftlichen Diskurs darüber verfolgt. Meine Grundannahme ist: Der Leidensdruck und seine Folgen werden durch narrative Muster und sprachliche Codierungen maßgeblich beeinflusst. Auch die Ohnmacht der Betroffenen wird nicht zuletzt kommunikativ vermittelt. Der Athlet bringt also etwas über andere Fälle in Erfahrung und überträgt eine entsprechende Berichterstattung auf sich selbst? Wenn jemand bei sich selbst eine Depression vermutet und sich darüber in Ratgebern, Internetforen, Zeitungsartikeln oder auch Autobiografien informiert, bekommt er dort Schemata geliefert, mit denen sich auch die eigene Situation beobachten und einschätzen lässt. Mit diesem Szenario beschäftige ich mich: Was erfahren die Athleten, was sind die typischen Erzählmuster, oder allgemein formuliert: Wie wird über Depressionen im Spitzensport gesellschaftlich kommuniziert? Der 37-jährige Sportsoziologe Dr. Felix Kühnle stammt aus Vaihingen an der Enz, gelegen im Stuttgarter Raum. Nach seinem Studium in Tübingen erhielt er eine Stelle am Institut für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt und forscht heute an der Universität Göttingen. „Es geht für mich immer weiter nördlich, irgendwann lande ich vermutlich in Hamburg“, sagt Kühnle, der während eines Auslandssemesters in Neuseeland 2009 vom Selbstmord Robert Enkes erfuhr. 2013 habe eine intensive Beschäftigung mit dem Thema eingesetzt, 2018 folgte die Promotion zum Thema „Depression im Spitzensport“. Außerdem forscht Kühnle zur Dopingprävention im Spitzensport und im Rahmen eines Forschungsprojekts zur individualisierten Athletenentwicklung: Dabei werden unter anderem die Strukturen von Stützpunkten mit dem Ziel untersucht, Problemlagen betreuter Sportler zu identifizieren und Prozesse der Organisationsentwicklung anzustoßen. Kühnle ist ledig, hat eine Lebensgefährtin und lebt in Göttingen und Darmstadt. Was haben Sie herausgefunden? Vor allen in den Massenmedien wird erwartbar skandalisiert und moralisiert: Häufig wird einie Unmenschlichkeit des Spitzensports angeklagt, der Umgang mit betroffenen Sportlern wird angeprangert, der Athlet in der Opferrolle gesehen, oftmals mit der Betonung darauf, dass sich dringend etwas ändern muss. Ein offener Umgang von Spitzensportlern mit „Schwächen“ wird gelobt. Was kann daraus abgeleitet werden? Vieles vollzieht sich tendenziell affirmativ und pseudokritisch. Anstatt stereotype Deutungen depressiver Leistungsschwäche und Hypersensibilität infrage zu stellen, werden solche Annahmen vielmehr reproduziert, auch wenn das nicht auf jede journalistische Berichterstattung gleichermaßen zutrifft. Generell müssten sich die Massenmedien dem Thema aber ergebnisoffener nähern. Wie haben Sie sich selbst dem Thema genähert? Ich habe für meine Arbeit eine Vielzahl an Texten ausgewertet, in denen Spitzensportler mit Depressionen in Verbindung gebracht werden oder sich selbst als „depressiv“ bezeichnen, öffentlich gemachte Fälle vor Enke und nach Enke angeschaut. Dazu gehörte auch der Fall von Sebastian Deisler, der massenmedial Kreise gezogen hat. Der Fall Enke war besonders einschlägig, weil Enke als beliebter Sportler die Nummer eins im deutschen Tor war, trotzdem am Leben litt und sich sogar das Leben nahm. Der Fall stellte insofern eine Zäsur dar, als er eine konjunkturelle Eigendynamik entwickelte und ein regelrechtes Projekt der Enttabuisierung von Depressionen im Spitzensport nach sich zog. Welcher Weg ist für Spitzensportler der bessere: sich zu öffnen oder die Medien nicht einzuweihen? Als Soziologe nehme ich eine amoralische Perspektive ein, beobachte das Kommunikationsgeschehen aus der Distanz und frage nach den sozialen Bedingungen. Eine solche Beobachterposition kann ein anderes Wissen über das Phänomen hervorbringen, in weiterführender Hinsicht ist stets ein interdisziplinärer Ansatz hilfreich. Von Eduard Warda