Göttinger Wissenschaftlerin untersucht Umgang der Kommunen mit der Flüchtlingskrise 2015

„Wir schaffen das.“ Für wenige andere Sätze hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) so viel Kritik einstecken müssen. Ihren Mutmachappell angesichts einer so bislang nicht gekannten Flüchtlingswelle äußerte die Regierungschefin am 31. August 2015. Der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hatte sich Tage zuvor ähnlich geäußert. Der Frage, ob Deutschland, ob die Kommunen die Aufgabe, den Zustrom so vieler Flüchtlinge in vernünftige Bahnen zu lenken, tatsächlich gemeistert haben, ist ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen im Rahmen der Wissenschaftsinitiative „Migration“ nachgegangen. Zu den Autorinnen und Autoren gehört Dr. Miriam Schader aus Göttingen. „Sie kamen nicht wie Wassermassen über uns“: Am Beispiel von drei Kommunen aus Niedersachsen haben sie und ihre Kollegen die Frage untersucht. Um welche drei Kommunen es sich handelt, will Schader nicht verraten. Im Interesse weiterer Forschungen solle das nicht dargelegt werden. Eine von ihnen, so viel lässt sie dann doch wissen, liegt in Südniedersachsen. „Es ging nicht darum, die Erfolge oder Misserfolge im Umgang mit der schnellen Zuwanderung Geflüchteter zu bewerten. Die Flüchtlingswelle ist meines Erachtens kein geeigneter Ausdruck. Die Menschen sind ja nicht wie Wassermassen über uns gekommen, sondern sie sind, was schon lange absehbar war, aus einer mörderischen Situation geflohen, um Schutz zu suchen“, wichtet die Wissenschaftlerin die Zusammenhänge. Die Untersuchung zeige, dass 2015 und 2016, anders als oft behauptet, der Staat nicht zusammengebrochen sei. „Kalkulierte Unvorbereitetheit der Politik“: „Vielmehr waren unsere Kommunen in der Lage, mit der Aufnahme der Menschen umzugehen. Sicher waren die Art, wie die Menschen auf die Kommunen verteilt wurden und die kalkulierte Unvorbereitetheit der Bundes- und Landespolitik, aber auch der kommunalen Strukturen eine Herausforderung für viele“, bilanziert Schader. Sie betont, dass Deutschland auf die Ereignisse im Sommer 2015 hätte vorbereitet sein können, ja müssen. Schließlich sei der Syrienkonflikt bereits 2011 ausgebrochen. Für viele Geflüchtete damals wie heute seien die Bedingungen der Aufnahme und der Umgang der Behörden mit ihnen harsch und würden oft nicht ihren Bedürfnissen entsprechen. „Das haben wir in einer anderen Studie gezeigt. Aber der Rechtstaat, die Verwaltung und sozialstaatliche Strukturen sind in der Regel nicht kollabiert – auch, weil viele Ehrenamtliche sich sehr engagiert haben“, erläutert Schader. Eine Kommune kehrte zur Tagesordnung zurück: In der Zeit nach dem „langen Sommer der Migration“ hätten die untersuchten Kommunen unterschiedliche Konsequenzen gezogen und sich für verschiedene Strategien entschieden. Während die eine Kommune auf eine Rückkehr zum Status quo setzte und sich auch heute im Wesentlichen darauf konzentriere, die Zuweisungsquote zu erfüllen, ohne umfassendere Konsequenzen aus 2015/16 gezogen zu haben, hätten die anderen beiden ihre Strukturen grundlegend verändert. „So sind in beiden Kommunen neue Stellen eingerichtet worden: In der größeren ein ganz neues Amt für Zuwanderung und Integration, das zwei Fachdienste umfasst, in der kleineren, weniger wohlhabenden Stadt immerhin ein Fachdienst für Zuwanderung und Integration.“ „Mehr Geld, mehr Stellen, bessere Konzepte“: Vor allem in der größeren der beiden Städte, aber soweit in dem kleineren Rahmen möglich, auch in der kleineren Stadt, seien Geflüchtete, Migration und Teilhabe damit seit 2015 nicht nur weiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sondern dieser ganze Bereich könne nun durch die Stadtverwaltung auch ganz anders bearbeitet werden: „Mehr Geld, mehr Stellen, bessere Konzepte, bessere Erreichbarkeit… Diese beiden Städte sind im Umgang mit Zuwanderung und vor allem mit migrationsbedingter Vielfalt besser aufgestellt als vor 2015. Sie haben wirklich etwas geschafft, wovon viele Menschen – ob Geflüchtete oder nicht – profitieren werden“, betont die Sozialwissenschaftlerin. Der Autor ist per E-Mail zu erreichen unter: u.meinhard@goettinger-tageblatt.de Die 2017 von der Max-Planck-Gesellschaft ins Leben gerufene Wissenschaftsinitiative Migration führte Forschende aus sechs Max-Planck-Instituten in Berlin, Göttingen, Halle, Heidelberg, München und Rostock zusammen. Der interdisziplinäre Forschungsverbund untersuchte die Faktoren, die Migration, Integration und Exklusion beeinflussen, aus verschiedenen Perspektiven wie etwa der Demografie, der Rechtswissenschaft, der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft. Bis zu 100 Neuankömmlinge wöchentlich hatten die drei untersuchten niedersächsischen Städte 2015/16 aufgenommen (bei einer Einwohnerzahl von 165.000, 130.000 und 80.000). Die Verwaltungen aller drei untersuchten Städte schalteten zunächst in einen „Notbetrieb“ mit kurzen Entscheidungswegen und waren so fähig, die Phase der Unsicherheit kurzfristig zu bewältigen. Allerdings zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Kommunen, vor allem, wie sie mittel- bis langfristig mit der Herausforderung umgingen. Die mittlere der drei Städte weigerte sich vorübergehend, weitere Schutzsuchende aufzunehmen. Von Ulrich Meinhard