Sogenannte Flüchtlingskrise: Göttinger Migrationsforscher präsentieren Ergebnisse von "Respond"

Welche Erfahrungen erleben Migranten an den europäischen Außengrenzen? Mit dieser und weiteren Fragen haben sich Forschungsinstitutionen aus elf Ländern im Rahmen des Projektes „Respond“ beschäftigt. Die Universität Göttingen wirkte als deutscher Partner mit. Wissenschaftler unter anderem aus Griechenland, der Türkei und Schweden untersuchten Migration und Asylpolitik in ihrem Land. Nach Projektabschluss haben die Forscher am Freitag und Sonnabend in einer zweitägigen Online-Konferenz ihre Ergebnisse mitgeteilt. „In den vergangenen drei Jahren haben wir 70 Reports geschrieben – nun zeigen wir eine Übersicht aus den elf Ländern“, sagt Prof. Sabine Hess, Leiterin des Instituts für Kulturanthropologie. Die Göttinger Universität sei als Partner ausgesucht worden, weil sie viel Forschung über Asylpolitik und Grenzmanagement publiziert hatte. Interviews mit Geflüchteten und Experten: „Wir beschäftigten uns mit unterschiedlichen Themen – beispielsweise mit ,Integration’ und ,Asylverfahren’. Die Partner publizierten zu jedem Thema einen nationalen Bericht“, erläutert Hess. Zudem führten sie alle Interviews mit mehr als 500 Geflüchteten sowie mit mehr als 200 Experten im Bereich Migration. „Mit Mitarbeitern der Ausländerbehörde sprachen wir und mit Leitern von Flüchtlingsunterkünften und Sozialarbeitern“, sagt Hess. Die Göttinger Migrationsforscher führten die Interviews in drei Teilen Deutschlands: In Niedersachsen, Bayern und Berlin. „Wir haben festgestellt, dass die Art der Unterbringung der Geflüchteten stark variiert“, sagt Hess. Dabei wirke sich die Unterkunft auf das soziale Leben der Geflüchteten aus, wie die Interviews belegten. Das Land Niedersachsen habe sich als liberaler herausgestellt als etwa Bayern – denn dort wurden Massenunterkünfte eingerichtet, sogenannte Ankerzentren. „AnkER“ steht für Ankunft, Entscheidung und Rückführung. Entwicklung einer Abschiebekultur: „Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich die Willkommenskultur in Deutschland zu einer Abschiebekultur entwickelt hat“, sagt Hess. Im Jahr 2015 zeigten sich viele Menschen hilfsbereit. Spätestens im Jahr 2016 waren die AFD und Rechtsextremismus in den Medien präsent sowie eine Angst der Deutschen vor Migration. Die Politik handelte dementsprechend, indem sie auf Abschiebungen setzte, so Hess. Die Partner des Forschungsprojekts „Respond“ haben ihre Zusammenarbeit mit einer Online-Konferenz abgeschlossen. „Steuerung der Migration in Europa und darüber hinaus: Neue Perspektiven und gewonnene Erkenntnisse“ lautete der Titel der Konferenz. Die Ergebnisse der dreijährigen Forschung der Institutionen aus elf Ländern wurden präsentiert. Das Symposium startete mit dem Thema „Fünf Jahre später: Die Europäische Flüchtlingskrise und die Antwort der Politik“. Der Vortrag wurde unter anderem von der Göttinger Wissenschaftlerin Prof. Sabine Hess vorgestellt. Anschließend erläuterte Elspeth Guild, Forscherin an der Universität Nijmegen, wie sich die Situation an den Grenzen durch die Coronakrise verändert hat. Zudem stand ein Vortrag mit dem Titel „Am Tor sein: Die äußere Dimension des europäischen Krisenmanagements“ auf dem Programm. Zudem stellten Wissenschaftler aus unterschiedlichen Ländern Herausforderungen und Prioritäten bei dem Empfang und der Integration mit Migranten vor. Die Migrationsforscherin beschäftigt sich in ihrer Arbeit besonders mit den europäischen Grenzräumen. „Diese sind zu Orten der Gewalt geworden“, sagt sie. Viele Geflüchtete hätten von Gewalterfahrungen berichtet, unter anderem an der türkisch-syrischen, der griechisch-türkischen, bulgarisch-türkischen und kroatisch-serbischen Grenze. „Mich schockiert, dass Europa nicht zu seinen eigenen Werten steht“, sagt Hess. Lesen Sie auch: Podiumsdiskussion in Göttingen: Welche Rolle sollen Migrationswissenschaftler spielen? Göttinger Forscher: EU-Migrationspolitik spielt mit dem Leben von Flüchtlingen Schweigen der deutschen Politiker: Deutsche Politiker würden diese Gewalt wiederum beschweigen. „Das ist Teil einer Strategie – Deutschland setzt auf die Außengrenze und schiebt die Verantwortung von sich“, sagt Hess. Die Politik kenne zwar die Ergebnisse der Forscher, handeln würde sie trotzdem nicht. „Das ist erstaunlich, dass so viel Geld in die Forschung investiert wird, auch EU-seitig, und die EU trotzdem kaum die Ergebnisse wahrnimmt.“ Die Professorin hält es dennoch für wichtig, an die Vernunft zu appellieren und die öffentliche Meinung mitzugestalten, durch das Veröffentlichen der Forschung. „Dass Wissenschaftler die Lage vor Ort an den Grenzen untersuchen, wird in Zukunft wichtig“, sagt Hess. Eine Zusammenarbeit mit Forschern aus unterschiedlichen Ländern empfehle sich da – nicht zuletzt, weil Migration ein internationales Phänomen sei. Von Anja Semonjek