Trotz Corona im Ausland: Göttinger Student Jakob Kerstan über seine Zeit in Benin

Mitten in der weltweit grassierenden Corona-Pandemie hat es den 26-jährigen Göttinger Studenten Jakob Kerstan für ein Auslandssemester nach Benin in Westafrika gezogen. Nach reiflicher Überlegung und „mit natürlich einem etwas unsicheren Gefühl“, so Kerstan, habe er sich dafür entschieden. Wie sein Uni-Alltag dort abläuft und welchen Problemen er im täglichen Leben begegnet, hat Kerstan im Interview mit dem Tageblatt beantwortet. Was führt Sie zum Studium nach Benin? Ich wollte bereits seit mehreren Jahren einen akademischen Auslandsaufenthalt im westafrikanischen frankofonen Afrika absolvieren, was aber bisher leider aufgrund anderer Auslandsaufenthalte nicht geklappt hat. Da ich meinen ersten Master bereits abgeschlossen habe und dies mein letztes Semester an der Uni Göttingen sein wird, ist dies de facto die letztmalige Chance für dieses Auslandssemester gewesen. Warum haben Sie sich trotz der Corona-Pandemie, entschieden, ins Ausland zu gehen? Ich habe mich bereits vor der Pandemie beworben und eine Verschiebung wäre in meinem Fall nicht möglich gewesen. Seit März gab es für mich eine große Ungewissheit, auch wegen meiner persönlichen Verantwortung. Ich habe die Zahlen stetig verfolgt und war vor der Abreise auch mit dem deutschen Botschafter in Kontakt, der mir allerdings auch keine genaueren Informationen liefern konnte. Ist es denn verantwortlich, jetzt zu reisen? Das habe ich mich auch gefragt. Letztendlich habe ich aber auch gewusst, dass ich direkt zweifach am Flughafen auf Corona getestet werde und die Gefahr, dass ich das Virus einschleppe, daher relativ gering ist. Zudem wohne ich hier alleine und habe weniger direkten Kontakt zu älteren Personen als in Deutschland. Ich bin ehrlich gesagt sogar ein wenig froh, meine Familie inklusive meiner Großmutter daheim nicht einer zusätzlichen Infektionsgefahr durch mich auszusetzen. Schlussendlich habe ich mich – mit natürlich einem etwas unsicheren Gefühl – dafür entschieden, da die Zahlen vor Ort in Benin weiterhin sehr gering waren, die Auslandskrankenversicherung trotz Reisewarnung gilt und der Winter in Deutschland bevorstand. Wie verlief die Einreise nach Benin? Ich bin am 26. September 2020 nach Benin eingereist und musste mich noch direkt am Flughafen zwei Corona-Tests unterziehen. Der Reisepass wurde zunächst einbehalten und durfte nach drei Tagen zusammen mit dem negativen Ergebnis des zweiten Tests wieder abgeholt werden. Das war alles insgesamt sehr, sehr gut organisiert und besser als an den meisten anderen europäischen Flughäfen, an denen ich in diesem Sommer unterwegs war. Welche Auswirkungen hat die weiterhin herrschende Corona-Pandemie für Sie? Im Land gibt es de facto so gut wie keinerlei Einschränkungen. Offiziell gilt zwar beispielsweise für Motorradtaxen eine Maskenpflicht oder Teilnahmebeschränkungen bei Feiern – allerdings wird beides nicht konsequent eingehalten. So war ich beispielsweise auch schon zu einer Hochzeit eingeladen, bei der die Anzahl der Leute deutlich überschritten wurde. Welche Maßnahmen gibt es an Ihrer Universität? In der Uni findet der Unterricht normal physisch und ohne Einschränkungen statt. Trotz einer offiziellen Maskenpflicht tragen nicht einmal die Professoren die Maske durchgehend. Ich habe zudem unterschiedliche Informationen darüber erhalten, ob die Cafeteria und einige Wohnheime an der Uni tatsächlich wegen Corona geschlossen sind. Wie schätzen Sie die Situation in Benin ein? Was ich wirklich beeindruckend finde, wenn ich das Bruttoinlandsprodukt Benins bedenke, ist, dass jeder einen kostenlosen Corona-Test bekommen kann. Als ich zu Beginn meines Aufenthaltes kurz leicht erkältet war, habe ich mich auch testen lassen – kostenlos. Das ging sehr problemlos und hat ungefähr so funktioniert wie die vielen anderen Tests, die ich diesen Sommer schon in Deutschland absolviert habe. Wie gehen die Menschen mit der drohenden Krankheit um? Insgesamt ist Corona allerdings nur eine von vielen Krankheiten hier, was wohl auch den recht lockeren Umgang mit der Krankheit erklärt. Es gibt meistens sehr viel Luftdurchzug, so gut wie keine komplett geschlossenen Räume, und sehr viel Leben spielt sich auf der Straße ab. Zudem beginnt gerade die Trockenzeit, was noch höhere Temperaturen und noch weniger Verbreitungsmöglichkeiten für das Virus mit sich bringt. Die Krankenhäuser sind nicht überfüllt, und es gibt kaum Informationen über schwere Krankheitsverläufe. Gestorben sind während der gesamten Pandemie in Benin bisher nach offiziellen Angaben nur 43 Personen mit Corona. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sehr wenig getestet wird, nach offizielle Angaben meistens vier, fünf Tage keine Infektionen gemeldet werden und anschließend einmal 30 bis 60 an nur einem Tag – realistisch möglich ist das so nicht. Welche Anstrengungen unternehmen die Behörden, eine Ausbreitung des Virus zu verhindern? In Parakou bekomme ich keinerlei Maßnahmen im Alltag wirklich zu spüren. Es gibt lediglich einige wenige Warnplakate der Regierung und der städtischen Verwaltung. Bis auf die Maskenpflicht auf Mopeds für den Chauffeur. Dass das Maskentragen direkt staatlich kontrolliert wird, habe ich noch nicht mitbekommen. Erst einmal wurden zwei Motorradfahrer in einer zufälligen Situation auf das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes hingewiesen. Denn auch Offizielle tragen häufig keine Masken – was ich beispielsweise erst erneut letztens erlebt habe, als ich in eine Polizeikontrolle geraten bin. Welche Maßnahmen werden konkret in ihrem Umfeld ergriffen? Es gibt kaum sichtbare Maßnahmen. Ich weiß, dass beispielsweise bei der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit vor Ort eine Maskenpflicht im Büro herrscht. Auch an der Uni muss eigentlich eine Maske getragen werden – wirklich passieren tut das aber nicht. Wie gehen die Menschen mit der Pandemie um? Ich würde es als sehr locker und unaufgeregt beschreiben. Corona ist hier nur eine von mehreren schlimmen Krankheiten. Allerdings wird auch fälschlicherweise von Beninerinnen und Beninern oft behauptet, dass Afrikaner gegen Corona immun seien. Wirklich stimmen tut das natürlich nicht. Allerdings ist es gut möglich, dass aufgrund der hiesigen Gegebenheiten der Organismus resistenter auf das Virus reagiert als bei in Deutschland aufgewachsenen Personen. Welche Eindrücke hinterlässt das bei Ihnen? Für mich war es sehr interessant, wie schnell sich die Perspektive auf Corona ändern kann. Weil die Gesellschaft hier – anders als in Deutschland – nicht ständig an Corona denkt, weil es einfach nicht präsent ist, verliere ich schnell die Aufmerksamkeit für die Gefahr. Alle Biergärten, Restaurants, Tanzbars sind ohne sichtbare Einschränkungen geöffnet. Dadurch wirkt die Gefahr deutlich abstrakter. Nichtsdestotrotz trage ich meine Maske weiterhin überall. Gibt es Proteste gegen verhängte Maßnahmen? Nein. An welcher Uni studieren Sie genau? Ich studiere an der Faculté d'Agronomie der Université de Parakou. Die Universität ist die zweite öffentliche Universität Benins. Sie wurde 2001 gegründet und umfasst derzeit 11 Fakultäten. Wie sehen Ihre Studienbedingungen in Benin aus? Die Université de Parakou umfasst einen sehr weitläufigen und grünen Campus. Dessen Größe ist nicht mit der Universität in Göttingen vergleichbar. Es gibt einen großen Sportplatz und zahlreiche Verwaltungsgebäude. Insgesamt funktionieren allerdings viele der Einrichtungsgegenstände wie beispielsweise die unzähligen Ventilatoren nicht. Am unerklärlichsten finde ich, dass es keine Sanitäreinrichtungen für die Studenten gibt. Wie laufen die Veranstaltungen ab? In meinem Fall findet der Unterricht für den Master ll in sehr kleinen Klassen und Vorlesungssälen statt. So sind wir in meinem Studiengang nur 25 Personen. Besonders positiv überrascht war ich während der ersten Wochen von der hohen Qualität der Studentenpräsentationen. Ein solch sicheres, selbstbewusstes Auftreten sucht meiner Erfahrung nach in Deutschland seinesgleichen. Da die Universität zwar staatlich, das Studieren aber nicht kostenlos ist, arbeiten viele Studenten nebenbei. Extrem schwierig – besonders für meine Kommilitonen mit weiteren Verpflichtungen – finde ich dabei, dass im Uni-Alltag absolut nichts planbar ist. Die Zeit und der Tag der Vorlesung ändern sich stetig und äußerst kurzfristig. Zur Organisation des Unterrichts gibt es keinerlei E-Mail-Kommunikation oder Informationen auf einer Webseite. Ich erhalte jegliche Ankündigungen nur von einer Art Klassensprecher über eine inoffizielle WhatsApp-Gruppe. Die Recherche für die Studenten wird sehr dadurch erschwert, dass es keinen Universitätszugang zu akademischen Online-Papern gibt, auf dem Campus den Studenten kein WLAN zur Verfügung steht und nicht alle Kommilitonen über einen eigenen Computer verfügen. Benin liegt in Westafrika, mit Togo im Westen und Nigeria im Osten, am Golf von Guinea. Seit 1960 ist Benin, zunächst als Republik Dahomey, unabhängig. Zuvor war es ab 1805 unter französischer Herrschaft. Noch immer ist Französisch die Amtssprache. Aktuell hat das Land knapp 11,5 Millionen Einwohner. Die drei größten Städte des Landes sind Cotonou und die Hauptstadt Porto-Novo an der Küste sowie Parakou im Landesinneren. In Cotonou und Parakou befinden sich auch die beiden Universitäten des Landes. Benin zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Etwa mehr als ein Drittel der Beniner sollen unterhalb der Armutsgrenze leben. Zwei Drittel der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. Sie ist in Benin, außer den Zolleinnahmen vom Seehafen von Cotonou, die zweite konstitutive Säule der Wirtschaft und trägt erheblich Wirtschaftslage des Landes bei. Ein Viertel aller wirtschaftlichen Leistungen wird mit ihr erzielt. Das Christentum mit einem Bevölkerungsanteil mehr als 42 Prozent ist die größte Religion im Land. Knapp 28 Prozent der Bevölkerung Benins sind Muslime. Welchen Problemen begegnen Sie dabei? Die Kurse sind hier im Master höchstens für eine Woche geplant – offiziell von Montag bis Sonnabend. Allerdings hat in der Realität noch keiner meiner Kurse mehr als vier Tage gedauert. Nach einer Woche steht ein anderes Fach auf dem Stundenplan. Individuelle Wahlmöglichkeiten wie in Deutschland gibt es nicht, und es herrscht Anwesenheitspflicht. Welcher Kurs zu welcher Uhrzeit stattfindet entscheidet sich immer erst am Tag selbst. Das Problem dabei ist für mich in erster Linie, dass es sehr schwierig ist, im Vorhinein Planungen zu treffen. Im Prinzip muss ich mir die gesamte Woche von Montag bis Sonnabend und von 7 Uhr bis 19 Uhr zu den offiziellen Unterrichtszeiten freihalten. Denn zu dieser Zeit kann der Dozent theoretisch entscheiden zu unterrichten, auch sehr spontan. Bisher war immer bis Sonntagabend nicht klar, ob am Montag ein Kurs stattfindet oder nicht. Am Abend kommt dann oft die Info von dem Klassensprecher über die WhatsApp-Gruppe, dass ein Kurs stattfindet. Ich warte also immer Sonntagabend darauf, dass der „responsable“ meines Kurses uns den Kurs für Montag mitteilt. Meistens wird angekündigt, dass der Kurs um 8 Uhr anfängt – tatsächlich um 8 Uhr begonnen hat am Montag allerdings noch nie ein Kurs. Macht es das Planen nicht unheimlich schwer? Ja, das verdeutlichen vielleicht drei Beispiele: Vor zwei Wochen wurde am Montag im Laufe des Vormittags die Unterrichtszeit von 8 auf 14 Uhr, auf 11, wieder auf 14 Uhr und schlussendlich auf 11 Uhr geändert. Ich war wie viele andere Studenten auch allerdings gezwungenermaßen schon um 8 Uhr vor Ort. In Realität kam der Dozent dann auch noch zu spät und wir haben 11.30 Uhr mit dem Unterricht begonnen. An einem anderen Tag waren wir wieder um 8 Uhr in der Uni um dann eine halbe Stunde später zu erfahren, dass tatsächlich ein Kurs stattfindet – allerdings erst ab 14 Uhr. Vergangene Woche war der Kurs beispielsweise auch am Montag nach einer Stunde schon vorbei. Dann gab es eine Art Hausaufgabe und die wurde am Freitag von den Studenten vorgestellt – das war es. Gibt es weitere Schwierigkeiten? Ein Problem ist dabei auch, dass oftmals nicht genügend Räume zur Verfügung stehen und wir immer spontan schauen (müssen), welcher Raum frei ist. Das ist besonders kritisch, wenn der Professor eine Präsentation vorbereitet hat und im Raum keine Elektrizität vorhanden ist und kein mobiler Beamer zur Verfügung steht. Wie sieht Ihr Uni-Alltag in Benin aus? Ich habe mir ein kleines Motorrad gekauft, mit dem ich täglich zur Uni fahre – immer so, dass ich um 8 Uhr da bin. Der tatsächliche Beginn des Kurses ist immer eine Überraschung. Nachdem ich früh zur Uni gefahren bin, warte ich bis die Uhrzeit und der Raum des Unterrichts feststeht und bin dann darauf angewiesen zu warten, bis der Professor den Kurs wieder beendet. Sobald der Kurs vorbei ist, fahre ich meistens noch in die Stadt, um Erledigungen zu treffen, oder setze mich in mein Büro und recherchiere für meine Masterarbeit. Ich bin auch sehr viel unterwegs, um mich mit Freunden zu treffen, essen zu gehen, meinen Französischkurs am Institut Français zu besuchen und die Umgebung mit dem Motorrad zu entdecken. Was ist vergleichbar mit dem Uni-Leben in Deutschland? Vergleichbar an meinem Alltag ist, dass die Universität auch hier im Vordergrund steht. Es gibt ebenfalls Prüfungen – allerdings bereits nach vier Wochen über die jeweiligen Kurse der vergangenen Wochen. Gruppenarbeiten sind deutlich zahlreicher als in Göttingen. Was mir hier zum Vergleich zum Uni-Leben in Deutschland am meisten fehlt, ist das Studentenleben. Es gibt kaum Hochschulgruppen, Diskussionsrunden oder sonstige Veranstaltungen auf dem Campus. Da ich in Deutschland täglich in verschiedenen Gruppen aktiv war, fällt mir das besonders schwer. Was ist komplett anders? Der Freiheitsgrad für Studenten ist ein deutlich anderer. Viele Kommilitonen wohnen noch zu Hause, einige dürfen trotz gehobenen Alters abends nicht weggehen, und die meisten Mädchen helfen natürlicherweise viel im Familienhaushalt, was – auf Grund der höheren Anzahl der Familienmitglieder und dem Nichtvorhandensein technischer Hilfsmittel wie Waschmaschinen – deutlich mehr Arbeit ist. Was noch? Der Respekt gegenüber den Professoren. Wenn ein Professor den Klassenraum oder Vorlesungssaal betritt, erheben sich alle Studenten. Der oder die Kommilitonin, die dem Dozenten am nächsten ist, nimmt ihm die Tasche ab und trägt sie bis zu seinem Platz, der zuvor von einem Studenten mit einem Tuch vom Staub gesäubert wird. Im Unterricht muss eine Schuluniform getragen werden, und auch sonst sind die Freiheiten der Studenten sehr stark eingeschränkt. Ich habe auch schon erlebt, dass Professoren Studenten auch während des Unterrichts für sich zum Einkaufen schicken oder Studenten – wenn auch in spaßigen Situationen – mit Kreide abwerfen, wenn sie unaufmerksam sind. Gibt es weitere ausländische Studierende in ihren Vorlesungen und Veranstaltungen an der Uni? Nein, ich bin meines Wissens nach der einzige Europäer an der Universität. Wie sieht der Alltag für Sie in Benin aus? Wie gestalten Sie ihre Freizeit? Generell gehe ich täglich in die Uni, spiele Fußball am Wochenende, gehe sonntags oft in die Kirche und treffe mich jeden Abend zum Essengehen mit Freunden. Ich bin zudem dabei, meinen Französischkurs zu besuchen, verreise viel an den Wochenenden, um das Land zu entdecken, und recherchiere für meine Masterarbeit. Irgendwie gibt es auch immer sehr viele Sachen zu tun. Ob es bürokratische Angelegenheiten wie Geld abheben bei der Bank sind, ich mal wieder zum Schneider gehe oder mich einfach zum Bier verabrede. Was ist vergleichbar mit dem Studium in Deutschland? Auch hier steht das Studium im Vordergrund. Ich betreibe ebenfalls Sport, allerdings unorganisierter als in Deutschland – da eine derartige Vereinskultur hier nicht vorhanden ist – und bin auch in Benin täglich viel auf den Beinen. Was ist komplett anders? Ich gehe viel mehr essen und plane sehr viel weniger, da sich vieles immer erst spontan entscheidet. Ich kann mich nicht zum Mittagessen in der Mensa verabreden und bin gesellschaftlich und politisch weniger aktiv. Die kulinarischen Spezialitäten sind sehr verschieden. Es gibt meistens Variationen von Maniok-, Yam- und Reisprodukten mit Fisch oder Fleisch. Vermeintlich einfache Angelegenheiten wie Behördengänge nehmen oft mehr Zeit in Anspruch und bringen meine deutsche Denkweise ab und an zum Rande der Verzweiflung. Allerdings tut es oft auch sehr gut, dass nicht der gesamte Tag durchgeplant ist und das Leben ruhiger und geselliger angegangen werden kann. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Menschen hier deutlich aktiver sind und mehr genießen als wir in Deutschland. Welche Erfahrung hat bei Ihnen bislang die größte Verwunderung ausgelöst? Generell bin ich durch meinen einjährigen Aufenthalt in Ghana schon für viele kulturelle Unterschiede sensibilisiert. Die nicht vorhandene Planungssicherheit an der Uni hat bei mir nichtsdestotrotz bislang wohl den größten Kulturschock ausgelöst. Jeder Professor ist hier eine Art König – der Ausdruck stammt von einem beninischen Freund – und entscheidet selbst, was, wann, wie und ob er unterrichten möchte. Einmal habe ich aufgrund des kulturellen Austausches respektvoll darauf hingewiesen, dass ich denke, dass die Zeiteinteilung der Studenten auch respektiert werden sollte – zur allgemeinen Belustigung und Freude meiner Kommilitonen. Für sie wäre es unvorstellbar, einen Professor so offen zu kritisieren – weswegen meine privilegierte Position auch ambivalent zu betrachten ist. Denn zwar bin ich für einen kulturellen Austausch hier, doch gehört es zum Respekt gegenüber des Gastlandes, dass ich mich in erster Linie an die Gegebenheiten vor Ort anpasse. Welche Auslandserfahrungen haben Sie über Benin bereits gemacht? Ich war nach dem Abitur mit dem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „Weltwärts“ im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für ein Jahr als Lehrerassistent an einer öffentlichen Schule in Agona Swedru in Ghana im Einsatz. Zudem sammelte ich praktische Erfahrungen unter anderem im Auslandsbüro Simbabwe der Konrad-Adenauer-Stiftung in Harare sowie im Zuge des „Konkreten Friedensdienstes“ mit Engagement Global bei einer kleinen NGO in Tansania. Ausgedehnte Rucksackreisen durch Westafrika, Lateinamerika und Indonesien/Ost-Timor zeigten mir die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven. Vergangenes Jahr bin ich beispielsweise alleine mit dem Rucksack und mit öffentlichen Transportmitteln vom Senegal bis nach Ghana quer durch Westafrika gereist. Was geben Ihnen diese Auslandaufenthalte? Ein stärkeres Bewusstsein für interkulturelle Beziehungen liegt mir am Herzen. Seit 2015 bin ich Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und habe beim Seminarprogramm der Stiftung beispielsweise im August 2018 in Berlin das Seminar „Marshallplan mit Afrika – die Herausforderungen des afrikanischen Kontinents verstehen“ und in diesem Monat das Auslandsinitiativseminar „Senegal als Wirtschaftsmotor im Westen Afrikas – ein Paradebeispiel“ in der senegalesischen Hauptstadt Dakar organisiert, das aufgrund der Corona-Pandemie leider abgesagt werden musste. Selbiges Seminar ist nun für 2021 angesetzt. Welche Anknüpfungspunkte haben Sie zu Benin? Seit meinem Freiwilligendienst in Ghana habe ich eine sehr große Begeisterung für westafrikanische Kulturen entwickelt. Während des Studiums beschäftigte ich mich intensiv mit wirtschaftlichen Entwicklungen in Sub-Sahara-Afrika und Fragestellungen internationaler Kooperationen. Mein Auslandssemester in Mexiko hat mir wiederholt verdeutlicht, dass das Erlernen einer Sprache am besten vor Ort funktioniert. Das Französisch aus meiner Schulzeit, das ich sieben Jahre lang erlernte, aber nie im Alltag anwenden konnte, war ziemlich eingerostet. Dies wollte ich, gerade auch vor dem Hintergrund meiner Ambitionen zukünftig im internationalen Kontext zu arbeiten, nun ändern. Mein Ziel vor Ort war und ist es, von der beninischen Herangehensweise zu lernen. Gerne möchte ich die Denkweise der Beninerinnen und Beniner besser verstehen. Da die einzige Kooperation der Uni Göttingen mit einer frankofonen afrikanischen Universität zwischen dem Institut für Ethnologie und der Faculté d'Agronomie besteht, habe ich mich trotz meines volkswirtschaftlichen Hintergrundes erfolgreich auf einen Austauschstudienplatz beworben. Es ist erst das zweite Mal, dass ein Student an dem Austausch teilnimmt. Benin zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Wie wirkt sich das aus? Welche Eindrücke bekommen Sie davon? Wie werden Sie als vermeintlich reicher Europäer aufgenommen? Obwohl Benin zu den allerärmsten Ländern der Welt zählt, sind Armutsindizien wie Unterernährung in der Stadt kaum sichtbar. Hier wimmelt es an jeder Ecke von kleinen Restaurants, Bars und unglaublich vielen Essensständen. Als vermeintlich reicher Europäer werde ich sehr, sehr gut aufgenommen – wovon ich jedes Mal aufs Neue äußerst beeindruckt bin. Es herrscht eine unglaubliche Gastfreundlichkeit. Fast jeder ist prinzipiell daran interessiert, mich wenigstens anzulächeln und zu grüßen. Aber eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft einzunehmen, ist weder immer leicht noch schön. Zum Beispiel? Ich werde häufig nach Geld gefragt. Erst vor Kurzem hat mir ein Student geschrieben, dass er kein Geld hat, um seine Uni-Arbeit auszudrucken und einzureichen. Er hat mich gebeten dafür zu bezahlen. Das sind keine schönen Situationen. Eine andere Literaturstudentin arbeitet den ganzen Tag nebenbei Vollzeit und verdient damit weniger als 50 Euro im Monat. Die Bücher oder ein Smartphone, auf dem sie lesen kann, kann sie sich nicht leisten. Am Abend schreibt sie die Aufzeichnungen ihrer Freunde in ein Notizbuch. Mit meinem und unserem privilegierten Status auf der Welt werde ich dementsprechend täglich konfrontiert. Lesen Sie auch: Dänischer Tanker vor Westafrika von Piraten angegriffen Corona: Entwicklungsminister will Hilfen für ärmere Staaten verstärken Entwicklungsminister Müller: „Das Verhalten der EU ist beschämend“ IWF gewährt 25 Staaten wegen Corona-Krise Schuldenerlass Jonas Lossau kämpft gegen den Hunger – und erhält mit seiner Organisation den Friedensnobelpreis Kolonialismus: Habermas arbeitet mit Studierenden die Vergangenheit der Uni Göttingen auf In Göttingen untergebrachte Maori Köpfe sind in Wellington angekommen Blumenbach-Streit in Göttingen: Professoren Lauer und Gardt widersprechen Studenten Südwestafrika-Denkmal in Göttingen sorgt für Kontroversen Wie geht Benin mit der kolonialen Vergangenheit um? Hat sich das im Zuge der aktuell hier geführten Diskussion geändert? Ich würde persönlich sagen, ambivalent. Darüber gibt es sicher unterschiedliche Ansichten, aber meiner Erfahrung nach ist die koloniale Vergangenheit, zumindest im Alltag in Parakou, kein großes Thema. Interessant zu beobachten ist aber schon, dass die Leute erleichtert und meistens offensichtlich glücklich sind, wenn ich erzähle, dass ich aus Deutschland und nicht aus Frankreich komme. Frankreich hat gerade auch vor dem Hintergrund des weiterhin unumstrittenen starken wirtschaftlichen und politischen Einflusses im Land und in Afrika allgemein einen sehr schlechten Ruf. Beispielsweise ist die Währung Franc Communauté financière en Afrique (CFA) an den Euro gebunden und wird in Frankreich gedruckt – eine unabhängige Geldpolitik wie sie beispielsweise zur Inflationsbekämpfung notwendig wäre, ist daher nicht möglich. Andererseits ist allerdings aufgrund der Kolonialzeit auch bei vielen Menschen im Kopf verankert, dass alles, was aus Europa kommt, vermeintlich besser sei. Dieses für mich traurige Phänomen ist besonders im akademischen Kontext zu beobachten. Es gibt beispielsweise auch Trinkwasser – wie „Evian“ für zwei Euro pro Flasche – zu kaufen. Aus Frankreich importiert. Ambivalent sagte ich, weil trotzdem beispielsweise sehr viele Paris-Fußballtrikots im Stadtbild zu sehen sind – wohl auch weil in Frankreich viele Spieler mit afrikanischen Wurzeln aktiv sind. Erst am Sonnabend habe ich beim Fußball einen Freund mit einem Frankreichtrikot gefragt, warum er es trägt, und er meinte: „Ich liebe Frankreich“. Immer eindeutig ist die Meinung also nicht. Jakob Kerstan ist 26 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Cottbus. Dort hat er 2013 am Pückler-Gymnasium das Abitur abgelegt. Nach einem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst in Ghana, begann er 2014 ein Bachelorstudium der Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Nach akademischen Auslandsaufenthalten am Hastings College in Nebraska (USA) und an der Universidad de Guadalajara (Mexiko), hat Kerstan 2018 sein Master of Science „Development Economics“ an der Georg-August-Universität in Göttingen begonnen. Zudem graduierte er sich im September in dem einjährigen Masterstudiengang „Political Economy of Late Development“ an der London School of Economics and Political Science (LSE). Seine Londoner Abschlussarbeit trägt den Titel: „Deforestation and post-independence economic success in Côte d’Ivoire“. Derzeit studiert Kerstan bis April 2021 an der Université de Parakou in Benin, um hier sein Göttinger Master-Studium abzuschließen und seine Abschlussarbeit zu schreiben. Außerdem engagierte sich Kerstan in der Eine-Welt-Arbeit, unter anderem im Bistum Münster. Kerstan ist auch politisch aktiv, in Göttingen unter anderem beim RCDS und der Jungen Union. Zudem spielt er seit seiner Kindheit Vereinsfußball – in Göttingen beim SC Hainberg. Von Michael Brakemeier