Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Professor Vogel?

Prof. Dr. Berthold Vogel, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität, spricht mit Martin Baumgartner über gesellschaftlichen Zusammenhalt, gute Verwaltung und Bedrohungen der demokratischen Öffentlichkeit. Professor Vogel, Sie forschen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn man die Nachrichten regelmäßig verfolgt, scheint der massiv zurückzugehen. Trifft das Ihrer Erkenntnis nach zu oder täuscht der Eindruck? Ob er massiv zurückgeht? Er steht jedenfalls in Frage – durch die veränderte Art, wie wir arbeiten, wie wir zusammenleben und wie wir kommunizieren. Die Unverbindlichkeit nimmt zu. Allerorten. Die Digitalisierung scheint uns eher zu trennen, als zusammenzubringen. Das gilt für Arbeit und Betrieb, aber auch für das soziale Umfeld. Der Eindruck, dass Zusammenhalt gefährdet ist, täuscht also nicht. Jüngst häufen sich Berichte über Bedrohungen und Einschüchterungsversuche gegen Politiker auf allen politischen Ebenen, von kleinen Kommunen bis in die Bundespolitik. Auch im Landkreis Göttingen gab und gibt es solche Fälle. Zudem gibt es eine spürbar negative Entwicklung in den sogenannten „sozialen Medien“, wo aggressive und verletzende Ausdrucksformen ja mittlerweile gang und gäbe sind. Sind das alles Anzeichen einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft? Es sind Zeichen der Enthemmung. Die sogenannten sozialen Medien sind Orte, an denen sich Menschen verstecken können. So sozial sind sie gar nicht. Sie sind jedenfalls keine Orte einer demokratischen Öffentlichkeit – und darunter leiden gerade die, die in der Öffentlichkeit stehen. Die Bürgermeister, die Rettungskräfte und die Menschen, die sich für allgemeine Anliegen engagieren. Das ist eine sehr bedrohliche Entwicklung, denn so geht die Demokratie vor die Hunde. Soziologisch betrachtet: Warum vergessen Menschen derzeit offenbar in so großer Zahl die zivilisierten Umgangsformen, die Gebote der Höflichkeit und des gegenseitigen Respekts, und wissen ihren Unmut nicht anders auszudrücken, als in Beschimpfungen, Drohungen und einige auch in Gewaltakten? Gibt es da irgendeinen gesellschaftlichen Mechanismus, der das befördert oder früher gehemmt hat, irgendwelche „Institutionen“, die nicht mehr richtig funktionieren? Allgemein könnte man sagen: Weil Menschen eben auch so sind und so sein können. Ohne Respekt, rücksichtlos und unachtsam. Doch das ist zu einfach, denn es verändern sich auch die Orte, an denen wir Zivilisiertheit einüben: Betrieb und Familie zum Beispiel. Wenn Arbeit projektförmig oder auf Plattformen organisiert wird, dann fällt der verbindliche Rahmen des Betriebs weg. Und wenn in Familie und Nachbarschaften alle pendeln und man sich bestenfalls noch einmal am Wochenende um den Tisch versammelt, dann gehen Alltagsstrukturen und wechselseitige Achtsamkeit verloren. Das muss alles nicht in Gewalt enden, aber viele Menschen spüren heute, dass das innere Band der Gesellschaft unter Spannung steht, weil sie selbst unter Spannung stehen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Entwicklung? Ein wichtiger Punkt ist: Der Staat und öffentliche Einrichtungen haben seit Jahrzehnten eine schlechte Presse. Aus der Politik heraus, aus den Medien, von Seiten der Unternehmensverbände wurden Staat, Bürokratie, öffentliche Einrichtungen schlecht geredet. Es wurde ein gesellschaftliches Klima der Staatsverachtung geschaffen, in dem jede Stelle weniger im öffentlichen Bereich als Erfolg des Bürokratieabbaus verkündet wurde. Diejenigen, die noch vor kurzem staatliche Bürokratien und ihre Mitarbeiter als steuerfressende Monster denunzierten oder Staatsbedienstete als „faule Säcke“ brandmarkten, sollten sich nicht wundern, dass öffentliche Institutionen heute an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren haben. Der Weg zur Respektlosigkeit wurde mit Worten geebnet. Oft werden die neueren gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, etwa das Entstehen einer neuen rechten Bewegung und auch der Glaube an absurde Theorien und offensichtlich falsche Behauptungen mit einer allgemeinen Verunsicherung der Menschen, mit Verlustängsten und einem Rückgang des Vertrauens in die staatlichen bzw. demokratischen Institutionen erklärt. Halten Sie die genannte Diagnose für zutreffend und wenn ja, woher rührt diese Verunsicherung und der Vertrauensverlust? Wir sind heute Zeugen von Wohlstandskonflikten und Abstiegssorgen. Wir stehen an einem Punkt, wo wir nach Jahrzehnten der Wohlstandssteigerung die beunruhigende Sorge haben, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen wird. Zugleich haben wir mit der Steigerung des privaten Wohlstands die öffentlichen Angelegenheiten vernachlässigt. Wo sind jetzt die Orientierungen, wenn jeder für sich alleine steht? Da haben es die leicht, die sagen: Wir brauchen jetzt den starken Mann. Oder: Wir müssen gegen Andere für uns selbst sorgen! Und das sagen nicht die, die am Rand der Gesellschaft stehen, sondern die, die mittendrin sind und um das Erreichte fürchten. Ist die beschriebene Entwicklung denn überhaupt ein so neues Phänomen, mal abgesehen von den modernen Möglichkeiten der Kommunikation im Internet? Solche Phasen der starken gesellschaftlichen Konflikte bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gab es doch schon immer, sei es im 19. Jahrhundert („1848“), in der Weimarer Republik mit deren schrecklichem Ende, dann die 68er-Bewegung, die Proteste gegen die Aufrüstung, gegen Startbahn West, die Atomindustrie bis hin zur RAF. Auch die Zuwanderung von Gastarbeitern, Flüchtlingen und Asylbewerbern hat schon früher immer wieder für Konflikte gesorgt. Was ist neu an der heutigen Krise? Wir erleben einen Zeitenumbruch. Es ist unstrittig, dass unser Wohlstandsmodell an seine natürlichen und sozialen Grenzen kommt. Jetzt braucht es Ideen, was Gesellschaften künftig zusammenhält und wie wir wirtschaften müssen, um auch kommenden Generationen nicht nur ein gutes Klima mit Blick auf Mensch und Natur zu hinterlassen, sondern auch ein soziales Klima, das von Ausgleich und Demokratie getragen wird. Gibt es Vorbilder oder politische Modelle dafür, wie eine Gesellschaft solche Konflikte erfolgreich überwinden kann? Ja, wir leben inmitten dieser Modelle: der moderne soziale Rechtsstaat und seine öffentlichen Güter sind die beste Erfindung, gesellschaftliche Konflikte demokratisch zu lösen. Daher sollten wir ihn wertschätzen und mit allen Mitteln verteidigen. Er ist ein hohes politisches Gut. In Ihrem Buch „Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie“ vertreten Sie die Auffassung, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt nur möglich ist, wenn eine gute Verwaltung dahintersteht. Ich denke bei dem Wort „Verwaltung“ zuerst an „Bürokratie“, an Akten und Vorschriften, an manchmal notwendiger Weise gefühllose, aber meist auch nachvollziehbare Entscheidungen aufgrund rationaler Überlegungen. Was ist denn Ihrer Meinung nach eine „gute Verwaltung“? Ein Ort, der nach Regeln funktioniert, die für alle gleichermaßen gelten; ein Ort, der seine Bürgerinnen und Bürger weder als Untertanen noch Kunden betrachtet, sondern als Träger von Rechten und Pflichten; ein Ort, der Teilhabe ermöglicht und lernbereit ist. Und Sie werden es nicht glauben, wir finden diese gute Verwaltung in vielen Kommunen und Landkreisen in unserer Forschung. Die weit, weit überwiegende Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung sind alles Mögliche, aber sicher keine gefühllosen Technokraten. Unsere Verwaltung ist sehr viel besser als ihr Ruf – es schreibt und spricht nur kaum einer darüber. Leider! Sie sagten in einem anderen Interview, „eine solche Politik des Zusammenhalts wird nur mit einer guten Verwaltung gelingen. Denn sie sichert Daseinsvorsorge, technische Infrastrukturen und öffentliche Güter. Eine professionelle und gute Verwaltung sorgt für Bildung und Gesundheit, für Alterssicherung und Pflege, für Fragen von Wohnen und Verkehr. All dies wird durch eine gute Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten ermöglicht. Daher sind wir alle auf eine gute Verwaltung angewiesen.“ Mir scheint, Sie überfrachten da die Verwaltungen, gerade auf kommunaler Ebene, mit unerfüllbaren Erwartungen. Die Mittel sind doch begrenzt, die Kassen oft leer, es mangelt an Personal. Wie soll da selbst eine gut gewillte Verwaltung all diese Dinge erledigen? Ich beschreibe Aufgaben – und wenn ich diese Aufgaben beschreibe, dann rede ich ja nicht im engeren Sinne von der Kommunalverwaltung, sondern in einem weiten Sinne von den Einrichtungen der öffentlichen Ordnung, also vom Rechts-, Gesundheits- oder Bildungswesen. Das, was wir gemeinhin als Staat verstehen. Die beschriebenen Punkte sind öffentliche, staatliche Aufgaben – und wenn die nicht gut erledigt werden, dann können wir uns alle Sonntagsreden über Zusammenhalt sparen. Die öffentlichen Güter, die staatlichen Aufgaben, das muss funktionieren. Sie sind die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb müssen wir hier ordentlich und kontinuierlich investieren. Demokratie kostet Geld. Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Und das ist gut so. Es scheint etwas vereinfacht, die Verantwortung für den Zusammenhalt und das Gelingen des gesellschaftlichen Miteinanders zuvorderst einer „guten Verwaltung“ aufzuerlegen. Was können denn die einzelnen Menschen und die Zivilgesellschaft als Ganzes tun, um dies zu fördern und auch zur „guten Verwaltung“ beizutragen? Nein, ich möchte der Verwaltung nichts auferlegen. Ich möchte auf ihre Relevanz für Gemeinwohl und Demokratie aufmerksam machen, auf ihren Wert. Sie leistet doch heute schon eine ganze Menge für das Miteinander. Zugleich haben Sie Recht, ohne engagierte Bürgerinnen und Bürger geht es nicht. Eine lebendige Gesellschaft und die lokale Demokratie brauchen die Menschen, die sich vor Ort in Vereinen oder in der Kirche engagieren, die Hausaufgabenhilfe anbieten und Besuchsdienste für Senioren organisieren. Das eine geht nicht ohne das andere. Eine Gesellschaft, ein Dorf, ein Stadtviertel sind keine Einbahnstraßen. Berthold Vogel (geb. 1963 in Würzburg) ist Soziologe und Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI). Von 1983 bis 1989 studierte er Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Pädagogik und Arbeitsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Ebenfalls an der Georg-August-Universität Göttingen wurde er 1998 mit einer Dissertation über den wirtschaftlichen und sozialen Wandel einer ostdeutschen Gemeinde nach 1989 („Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft“, Hamburg 1998) promoviert. 2009 habilitierte er sich für das Fach Soziologie an der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeits-, Staats- und Justizsoziologie sowie die Soziologie öffentlicher Güter. Vogel ist u. a. Mitglied der Kommission „Zukunft der Arbeit“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Hans-Böckler-Stiftung und Berater der Deutschen Bischofskonferenz für gesellschaftswissenschaftliche und soziale Fragen. In der Studie „Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie“, die er gemeinsam mit Claudia Neu (Universitäten Göttingen und Kassel) und Jens Kersten (LMU München) verfasst hat, befassen sich die Wissenschaftler mit der Grundlage für einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird gegenwärtig oft gestellt und als Krise wahrgenommen. Verunsicherte Bürger sehen ihren persönlichen Status, ihre soziale Teilhabe und ökonomischen Chancen in Gefahr. Das Vertrauen in demokratische Institutionen und den Staat ist fragiler geworden. In ihrer Studie betonen Berthold Vogel, Claudia Neu und Jens Kersten daher die zentrale Rolle einer guten Verwaltung als Grundlage einer Politik des Zusammenhalts. Das Buch ist in der Hamburger Edition, dem Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, erschienen. Es ist unter der ISBN 978-3-86854-328-5 zu beziehen. Von Martin Baumgartner

Interview - Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Professor Vogel?