TU Clausthal: Corona-Studie eines Goslarer Forschers zu Ansteckungsgefahr in Konzerthäusern

Als Wolfgang Schade zum ersten Mal mit Oleg zusammentraf, ahnte er noch nicht, dass der bald Deutschlands wichtigster Konzertbesucher werden sollte. Oleg stand in der Ecke eines Bekleidungsgeschäfts in der Goslarer Innenstadt, auf der Brust ein Zu-verkaufen-Schild, und Schade verließ das Geschäft nicht nur mit einem neuen Hemd, sondern auch mit der Absicht, die ausrangierte Schaufensterpuppe zu erwerben. Es ist vielleicht typisch für einen Wissenschaftler wie Schade, dass ihm das Bauchgefühl, aus dem heraus er die Puppe gekauft hatte, bald überraschend neue Wege eröffnete. Denn kurze Zeit später erhielt er einen ungewöhnlichen Auftrag: Der Physiker sollte untersuchen, wie sich Aerosole und CO2 im Zuschauerraum des Konzerthauses Dortmund verbreiten. Der Veranstalter wollte wissen, ob und unter welchen Bedingungen genau eine Corona-Ansteckungsgefahr für die Besucher im Saal besteht – und dafür erstmals aussagekräftige Daten erheben. Gefährliches Ausatmen: Schade beschloss, die Schaufensterpuppe umzubauen. Er schraubte ihr den Unterleib ab und führte eine Reihe von Schläuchen von hinten durch den Kopf zu Mund und Nase. Wie zum Ausgleich bekam die Puppe einen Namen – Oleg. So wurde aus dem Kunststoff-Mannequin einer Harzer Boutique der Prototyp eines großstädtischen Konzertbesuchers, der still auf einem Stuhl sitzt und das tut, was ihn in Zeiten der Pandemie so gefährlich machen kann: ausatmen. Als Professor an der TU Clausthal und Leiter der Abteilung Faseroptische Sensorprogramme am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Goslar forscht Schade eigentlich in ganz anderen Bereichen: Er untersucht etwa die Leistungsfähigkeiten von Batterien für die Elektromobilität. Oder er beobachtet, was passiert, wenn diese Batterien in dem riesigen, dick mit Schamottsteinen gepanzerten Container in der Halle seines Instituts zur Explosion gebracht werden. Wichtigste Werkzeuge sind dabei stets Glasfaserkabel: Schade ist Experte für Messungen aller Art – und die Glasfasern sind seine Instrumente, die wie Nervenbahnen alle möglichen Bereiche durchdringen und dort Informationen aufnehmen können. Ein vielseitiger Spezialist: Der 63-Jährige ist Spezialist, aber bei Weitem nicht auf ein Spezialgebiet beschränkt. An der Glastür seines Büros ist ein Zitat von Gottfried Wilhelm Leibniz eingraviert: „Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.“ Schade hat selbst die Goslarer Außenstelle des Fraunhofer-Instituts gegründet und dafür gesorgt, dass das Institut einen luftigen Neubau auf dem Unicampus bekommt. Er kümmert sich auch um Hilfsprojekte in Tansania, bei denen es um Energie- und Wasserversorgung geht. Und in der Ecke seines Büros ist stets ein Notenständer aufgebaut, weil er zwischendurch gern ein bisschen Altsaxofon übt. In Dortmund hat er nun statt Energieströmen die mögliche Ansteckungsgefahr unter Konzertbesuchern vermessen. Nach derzeitigem Stand der Wissenschaft werden Coronaviren vor allem über Aerosole übertragen – über winzige Tröpfchen, die sich unsichtbar in der Luft halten. Wer in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge dieses Atemgemischs eines Infizierten einatmet, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, selbst infiziert zu werden. Wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist, lässt sich also feststellen, wenn man weiß, wo wie viel Aerosol ausgestoßen wird und wie es sich im Raum verteilt. Statt mit einem infizierten Menschen arbeitet Schade aber lieber mit Oleg. Aus den Schläuchen in seinem Kopf strömen klar definierte Mengen an Aerosolen und CO2 – und Schades Messtechnik registriert genau, was unter verschiedenen Bedingungen im Saal damit passiert. „Das ist keine Raketentechnik“: Dieser vergleichsweise einfache Versuchsaufbau ist dem Physiker fast ein bisschen peinlich. „Das ist keine Raketentechnik“, sagt er. „Man muss es einfach nur machen.“ Er wundert sich selbst, dass das vor ihm noch niemand getan hat. Zur Situation der Künstler und Künstlerinnen auf der Bühne gibt es bereits einige Studien. Auf das Publikum dagegen wurde noch nicht geschaut: Trotz der Dringlichkeit des Problems ist Schade jetzt der Erste, der eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage geben könnte, wie gefährlich der Sitznachbar in einem klassischen Konzert wirklich ist. Doch hier hält sich der Forscher lieber zurück. „Ich gebe kein Urteil ab“, sagt er. „Ich messe das und liefere dann Messdaten ab.“ Die Beurteilung dieser Daten haben in der Studie (hier die wichtigsten Auszüge) andere Experten wie der Hygieneprofessor Martin Exner vom Zentrum für Infektionsschutz in Bonn und Heinz-Jörn Moriske übernommen, der als Direktor des Umweltbundesamts und Leiter der Innenraumlufthygiene-Kommission des Bundes die Richtlinien festsetzt, an denen sich die Gesundheitsämter bei der Freigabe eines Saals orientieren. Beide kommen zu einem Fazit, das Veranstaltern und Musikfreunden viel Hoffnung geben dürfte. Im Saal des Konzerthauses Dortmund sei die Ansteckungsgefahr praktisch null – erst recht, wenn man die Besucher im sogenannten Schachbrettmuster platziert, also mit je einem freien Platz neben sich sowie davor und dahinter. Allerdings muss der Weg zum Platz gut organisiert sein. Außerdem sollten die Besucher eine Maske tragen, bis sie ihren Platz erreichen. Gute Lüftung ist der entscheidende Faktor: Denn der entscheidende Faktor ist die gute Lüftung in dem 2002 eröffneten Saal. Schade hat nachgewiesen, dass fast alle Gase und Schwebeteilchen nach oben abgesaugt werden können, bevor sie in die Nähe einer anderen Person kommen können. Und wegen der Thermik funktioniert das sogar umso besser, je mehr Leute im Saal sitzen. Besucherobergrenzen, die über die Reduzierung durch die Sitzordnung im Schachbrettmuster hinausgehen, sind hier also nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv. „Eigentlich ist das eine triviale Erkenntnis“, sagt der Physiker. Und doch dürfte sie vielen wie Musik in den Ohren klingen. In den meisten großen Sälen ist die Lüftung nämlichen ähnlich wie in Dortmund konstruiert: Dank Oleg gibt es jetzt gute Aussichten auf einen sicheren Neustart des Konzertlebens nach dem Lockdown. Von Stefan Arndt