Eichsfeld: Zeitzeuge berichtet bei Open-Air-Kino von DDR-Flucht mit Ballon

Seine Flucht aus der DDR in einem selbstgenähten Heißluftballon hat Zeitgeschichte geschrieben und als Vorlage für Spielfilme gedient: Günter Wetzel hat auf dem ehemaligen Grenzstreifen im Eichsfeld über die spektakuläre „Republikflucht“ und über deren Verfilmung von Michael „Bully“ Herbig gesprochen. Passender hätte die Kulisse nicht sein können. Beim Open-Air-Kino vor dem einstigen Beobachtungsturm der DDR-Grenztruppen wurde am Sonnabend nach Einbruch der Dunkelheit der Thriller „Ballon“ von 2018 gezeigt. Wetzel stellte sich dort den Fragen der auf Bierbänken in der Abend-Kälte ausharrenden Zuschauer. Erst beim dritten Anlauf gelang es 1979 den Familien Wetzel und Strelzyk, auf abenteuerliche Weise den Todesstreifen zu überfliegen und von Thüringen nach Bayern zu gelangen. Die gescheiterten Versuche, Verfolgungsdruck, Zweifel, Sorge um die Kinder, das beklemmende Alltagsklima in einem paranoiden Überwachungsstaat hat Herbig in seinem Film verdichtet. Dramatische Szenen: Bei allen Zugeständnissen an Fiktion, Spannung, Dramatik, Zuspitzung und Unterhaltung sei der Film sehr authentisch geworden, sagt Wetzel. Das Filmteam habe beide Familien befragt, seine Kommentare zum Drehbuch seien überwiegend beachtet worden, berichtet der 63-Jährige. Herbig habe auch Einblick in Stasi-Akten genommen und Akteure der DDR herangezogen. Um die Filmrechte zu bekommen, habe der Regisseur jahrelang gebraucht – „und das auch nur, weil er Ronald Emmerich kennt“. Wie fühlt man sich, wenn man zur Filmfigur wird und auch Worte in den Mund gelegt bekommt, die man so wahrscheinlich nie gesagt hat? Wetzel hat damit keine Probleme, da die Geschichte bei aller schauspielerischen Freiheit so erzählt worden sei, wie sie sich zugetragen habe: „Auch wenn es manche Szenen in dieser Form nicht gegeben hat, hätte es so sein können.“ Anders sieht er den auf einem Stern-Artikel fußenden Disney-Film „Mit dem Wind nach Westen“ von 1982. Im Vorfeld war Wetzel in den USA, Anregungen seien aber nicht beachtet worden, der Film „eher schlecht“. An dramatischen Szenen mangelte es nicht bei der abgehobenen Flucht, die den damals 24-jährigen Wetzel sein ganzes Leben verfolgte und nicht mehr losließ. Wetzel, der heute in Chemnitz lebt, wurde zum Ballon-Beifahrer, hat den Flugschein erworben und war 20 Jahre lang Fluglehrer. Beim „Grenzerstammtisch“ in Oberfranken tauscht er sich mit ehemaligen einfachen DDR-Grenzsoldaten und westdeutschen Grenzschützern aus. Brand und Bruchlandung: Immer wieder hat Wetzel über die Flucht gesprochen, sie auf der Website Ballonflucht minutiös geschildert, zigfach den realitätsnahen Herbig-Film gesehen, in dem er à la Hitchcock selbst kurz zu sehen ist. Dass die Flucht schließlich gelungen ist, sei „Riesenglück“ gewesen: „Wir standen so unter Spannung, dass wir nur noch funktioniert haben.“ Eine halbe Stunde lang kauerten acht Menschen in der Gondel und hielten sich an Propangasflaschen fest, bevor der Ballon nach 18 Kilometern Flug in einem Waldstück im Landkreis Hof niederging. Den buchstäblich brenzligsten Moment erlebte Wetzel, als der Ballon beim Start Feuer fing. Das ging nur gut, weil die beiden Familien vorsorglich einen Feuerlöscher mitgenommen hatten. Auf die Landung im bayerischen Gebüsch habe man keinen Einfluss gehabt: „Das Gas war alle.“ „Wer die Grenze in Frage stellt, stellt auch uns in Frage“, sagt der von Thomas Kretchmann verkörperte Stasi-Oberstleutnant im Film. Die Stasi war auf den Plan gerufen, als nach Scheitern des nur von Familie Strelzyk unternommenen zweiten Fluchtversuchs der zurückgelassene Ballon entdeckt wurde. Fluchtrequisiten wie Stoffbahnen und Gondel sind heute Museumsstücke in Berlin und Bayern. Die Filmvorführung am Kolonnenweg ist Auftakt der Film- und Gesprächsreihe „Ausbruch, Durchbruch, Umbruch“ des Grenzlandmuseums Eichsfeld gewesen. Am Freitagabend hat dort Gregor Sander die Verfilmung seines Romans „Was gewesen wäre“ vorgestellt, am Sonnabend war DDR-Ballonflüchtling Günter Wetzel zu Gast. Dass auf dem Grenzstreifen auch ein Piaggio mit Werbung für Ballonfahrten stand, hat seinen Grund. Die Veranstaltungsreihe zu 30 Jahren Deutsche Einheit flankiert das Museum mit einem Online-Quiz über Facebook. Dabei gibt es eine Ballonfahrt über das „grenzenlose Eichsfeld“ am 3. Oktober zu gewinnen. Ebenfalls am 3. Oktober wird die Film- und Gesprächsreihe mit dem Dokumentarfilm „Novembertage“. Der wird um 16 Uhr vom Filmpublizisten Ralph Eue in der Bildungsstätte am Museum präsentiert. Ein Mitarbeiter des Filmteams von „Fritzi – eine Wendewundergeschichte“ erzählt am 4. Oktober um 16 Uhr in der Bildungsstätte, wie aus dem Kinderbuch ein Trickfilm wurde. Und am 25. November um 18 Uhr stellt Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, seine TV-Reportagen vor. Lesen Sie auch Lichter und Video-Projektionen setzen ehemalige Grenze bei Duderstadt in Szene Grenzlandmuseum Eichsfeld feiert 30 Jahre Tag der Deutschen Einheit Von Kuno Mahnkopf