Deponie Deiderode: Was passiert mit dem Restmüll aus der grauen Tonne?

Die Ladung Müll klatscht auf den Hallenboden wie ein besiegter Kampfsportler auf die Matte. Aus den Müllfahrzeugen, die in stetem Fluss die Anlieferungshalle auf dem Deponiegelände Deiderode erreichen, ergießt sich der Restmüll von rund 460 000 Bewohnern der Landkreise Göttingen und Northeim auf harten Beton. Darunter Plastikverpackungen von senfgelb bis knallrot. Ausgelatschte Schuhe, Mandarinen, Papier und Steine, Gabeln, Löffel und Batterien. Dazu ein zerfledderter Regenschirm, ein ausgedienter Fußball und ein Staubsauger. Außerdem Hygieneartikel, eine Bratpfanne und vieles, das nicht mehr zu identifizieren ist. In der gigantischen Halle, in der Menschen wie Spielzeugfiguren in einem Kinderzimmer wirken, riecht es vergoren. Nach Windel. Säuerlich. Kurzum: Es stinkt. 92000 Tonnen Müll jährlich: 71 000 Tonnen Restmüll aus der Stadt Göttingen und den Kreisen Göttingen und Northeim werden vom Abfallzweckverband Südniedersachsen auf der Anlage in Deiderode jährlich verarbeitet. Dazu kommen 21 000 Tonnen Sperrmüll und ein kleinerer Teil sonstiger Abfälle. Täglich wird hier von 6 bis 22 Uhr gearbeitet. Zählt man die nächtliche Überwachung der Anlagentechnik von der Leitwarte aus dazu, sogar rund um die Uhr. Technisch gesehen handelt es sich um eine mechanisch-biologische Abfallbehandlungsanlage. Ziel ist es, den wild gemischten Rest- und Sperrmüll so aufzubereiten, dass er, so gut es geht, als Wertstoff genutzt werden kann. Deponie mit Bergpanorama: Im Gegensatz zum dreckigen und stinkenden Geschäft ist die Deponie auffällig idyllisch gelegen. Die Deideröder Adresse Auf dem Mittelberge deutet es an: Von der Anlage und insbesondere aus den großzügig verglasten Fensterfronten des Verwaltungstraktes des Abfallzweckverbandes Südniedersachsen blickt man auf teils schon fast schroffe, bewaldete und in der aktuellen Winterzeit auch verschneite Bergformationen. Mit ein bisschen Fantasie kann man sich hier, an einem der südlichsten Zipfel Niedersachsens und nur wenige Meter von der hessischen Landesgrenze entfernt, auch in Colorado und den Rocky Mountains wähnen. Oder zumindest im Bayerischen Wald. In der Anlieferungshalle geht es indes nicht idyllisch, sondern handfest zu. Ein Arbeiter schiebt mit einem meterhohen Radlader den Müll auf einen riesigen Haufen. Ein anderer schnappt sich mit kräftigen Metallzähnen seines Greifbaggers Rest- und Sperrmüll und lässt die Ladung in den gigantisches Trichter des Vorzerkleinerers fallen. Im Inneren dieses tonnenschweren Geräts wird der Müll auf eine einheitliche Größe gebrochen, massives Metall zermalmt den Müll so krachend wie Backenzähne Mandelkerne oder Haselnüsse. Apfelsinen fallen aus dem Skift: Der zerkleinerte Müll tritt anschließend seine Reise durch die mechanisch-biologische Behandlungsanlage an. Dutzende Förderbänder transportieren ihn wie Skilifte erlebnishungrige Wintersportler. Die Müllbrocken werden weiter zerkleinert, sortiert und beispielsweise Steine ausgesiebt. Da es oft nach oben geht, haben runde Gegenstände es an manchen Stellen schwer. So sammeln sich auf dem unteren Teil eines Förderbandes Gummibälle, Äpfel, Mandarinen und Korken. „Die Bälle sind für uns kein Problem, die stören nicht und können rausgesammelt werden“, erklärt Markus Rybarczyk, Geschäftsführer des Abfallzweckverbandes und gelegentlicher Besucherführer. Problematischer seien alte Audio-Kassetten: „Da wickeln sich dann oft die Bänder um Teile der Anlage und müssen abgeschnitten werden.“ Aus Müll werden Ströme: Halle 2, die Aufbereitungshalle. In zwei Siebtrommeln, in hellgrünen Gehäusen so groß wie Reisebusse, erfolgen die entscheidenden Weichenstellungen bei der Müllverwertung. Hier wird die ankommende zerhackte Müllmasse in drei unterschiedliche Ströme gelenkt, wie Rybarczyk es nennt. Und tatsächlich: Das Gewirr aus Förderbändern und anderen Anlagenteilen erinnert an das Wasser eines Bergbachs, das sich seinen Weg durch zerklüftete Felsen bahnt. Ähnlich wie sich diese Ströme teilen und mal Gesteinsbrocken umspülen, ruhig in ihrem Flußbett laufen oder Stromschnellen bilden, gehen auch die drei wesentlichen Restmüllanteile nach der Sortierung in der Siebtrommel getrennte Förderband-Wege: Metall, organische Anteile – für Laien Biomüll – und der in der Fachsprache „heizwertreiche Fraktion“ genannte Anteil aus Kunststoff und Holz. Der Abfallzweckverband besteht seit 2003. Gegründet wurde er von der Stadt Göttingen, den Landkreisen Göttingen und Northeim sowie dem Landkreis Osterode am Harz, der 2016 mit dem Landkreis Göttingen fusionierte. Der Abfallzweckverband verwertet Rest- und Sperrmüll aus den Gebieten seiner Mitglieder in seiner mechanisch-biologischen-Abfallbehandlungsanlage wie in der obigen Reportage beschrieben. Die Stadt Göttingen hat einen eigenen Entsorgungsbetrieb, den Göttinger Entsorgungsbetrieb GEB. Er betreibt am Standort Königsbühl 98 eine Bauabfallverwertungsanlage und -deponie sowie ein Bioenergiezentrum. Dieses Bioenergiezentrum befindet sich nach einem Brand 2016 noch im Wiederaufbau, im Frühjahr konnte allerdings Richtfest gefeiert werden. In einer Trockenvergärungsanlage mit Rottetunneln kann und soll hier Biomüll kompostiert werden. Auf dem GEB-Recyclinghof an der Rudolf-Wissell-Straße 5 werden rund 30 verschiedene Abfallarten zur umweltgerechten Verwertung und Entsorgung angenommen. Der Landkreis Göttingen betreibt auf dem Gebiet des Altkreises drei Deponien und Kompostanlagen. Auf dem Gelände der Entsorgungsanlage Deiderode in der Gemeinde Friedland verarbeitet der Abfallzweckverband Sperrmüll, Restabfall und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle wie oben beschrieben. Die Entsorgungsanlage Breitenberg in Duderstadt ist Deponie für Bauschutt, Kompostanlage und Recyclinghof. Das gleiche gilt für die Entsorgungsanlage in Dransfeld. Auf dem ehemaligen Kreisgebiet von Osterode am Harz beitreibt der Kreis Göttingen die Entsorgungsanlage Hattorf am Harz – laut Kreis-Webseite eine Deponie für Bauschutt, Böden und mineralische Abfälle, auf der Restabfall, Sperrmüll, hausmüllähnlicher Gewerbeabfall und Grünabfall angenommen wird. Informationen zu Müllentsorgung, Öffnungszeiten von Deponien und Entsorgungsbetrieben gibt es auf den Internetseiten: www.as-nds.de www.geb-goettingen.de www.landkreisgoettingen.de (hier im Menüpunkt „Unsere Themen“ Abfallwirtschaft Göttingen auswählen) Zumindest weitestgehend getrennt sind die drei Ströme jetzt. Denn auf dem Band für den Metallmüll erkennt man nicht nur Gabeln, Löffel, Schlüssel und Schraubenzieher, sondern auch Metallteile, an denen noch reichlich Kunststoff hängt. In das Gemisch aus Kunststoff und Holz verirren sich auch ein Apfel und eine Orange. Und auf dem Förderband mit den organischen Anteilen sieht es wegen Glas- und Plastiksplittern auch noch recht bunt aus. Kunststoff wird verbrannt, Metall verkauft: Dennoch ist für den heizwertreichen und den Metall-Anteil hier die Sortierung vorbei. Beides landet in unterschiedlichen Ecken der Anlage auf großen Haufen und wird durch andere Entsorgungsbetriebe abgeholt und verwertet. Kunststoff und Holz, erklärt Rybarczyk, würden von einem festen Abnehmer aus Bremen verbrannt und die Energie genutzt. Das Metall wird in unregelmäßigen Abständen zum Verkauf angeboten und dann von spezialisierten Entsorgern verwertet. Es hat dann noch einen Kunststoff-Anteil von 30 Prozent. Nach Angaben des Ahlener Instituts für Abfall, Abwasser und Infrastruktur-Management werden Restmülltonnen bundesweit zu zwei Dritteln falsch befüllt. Nicht in die Tonne gehören unter anderem: Bioabfall, Altpapier, Aludosen, Kunststoffverpackungen, Getränkeflaschen, Elektroaltgeräte. Außerdem auch nicht Problem- und Schadstoffe wie Batterien und Akkus, Farb- und Lackreste, Lösemittel, Energiesparlampen. Diese können auf Wertstoff- oder Recyclinghöfen oder anderen Sammelstellen abgegeben werden. In die graue Restmülltonne gehören: Staubsaugerbeutel, Windeln, Hygienepapiere, Zigarettenkippen, Asche, Kehricht, Fotos, Geschirr. Aufwändige Behandlung des Bio-Mülls: Nur um die biologische Feinfraktion kümmert sich der Abfallzweckverband im aufwändigsten Teil seiner Anlage komplett selbst. Aus dem mit Plastik, Glas und weiteren Dingen gemischten Biomüll auf dem Förderband wird in vielen weiteren Schritten am Ende ein erdähnlicher Gärrest, der auf dem Gelände der Deponie Blankenhagen im Landkreis Northeim ausgebracht wird. Bis es soweit ist, wird diese Müllfraktion in der Aufbereitungshalle mit viel Wasser vermengt, gemixt und zerkleinert. Kunststoff, Korken und Styropor werden abgefischt, Steinchen und anderes schweres Material in einem Sandfang ausgeschwemmt. Das Gemisch wird durch verschiedene Teile der Anlage gepumpt und erst ohne, dann mit Sauerstoff und Bakterien, die die jeweilige Umgebung brauchen, bearbeitet. Lesen Sie auch: Ausschreibung aufgehoben: Millionenprojekt des Abfallzweckverbandes auf Eis Ein Teil dieses Prozesses findet außerhalb der Hallen in den drei riesigen Fermentierbehältern statt, die weit über die Ortsgrenzen von Deiderode hinaus sichtbar sind. Am Ende des Nassvergärung genannten Prozesses wird die nasse Masse getrocknet und erdähnlicher Gärrest entsteht. Hierfür nutzt der Abfallzweckverband Biogas, das während des Prozesses entsteht und die Wärme aus den zwei eigenen Blockheizkraftwerken auf dem Gelände. Lesen Sie auch Großprojekt des Abfallzweckverbands Göttingen liegt auf Eis Dass am Ende der Verwertung in der MBA wenig an einen richtigen Wertstoff-Kreislauf erinnert, dass weder Metall noch heizwertreiche Fraktion hundertprozentig sauber getrennt sind und der Gärrest auf der Deponie gelagert werden muss, weil er aufgrund eventueller Schadstoffrückstände nicht als Gartenerde genutzt werden darf, liegt für Rybarczyk in der Natur der Sache. „Wir behandeln hier den Restmüll und der heißt nicht ohne Grund so. Anders als bei dem vom Bürger sehr sauber vorsortierten Bio-, Papier- oder Glasmüll haben wir ein sehr geringes Verwertungspotenzial. Das ist einfach so, und da machen wir das Beste draus.“ Die Mitarbeiter des Abfallzweckverbandes haben täglich damit zu tun, dass im Restmüll auch Müll landet, der dort nicht hineingehört: Verpackungsmüll und Biomüll beispielsweise. Zu den exotischeren Fundstücken gehören Waffen und Munition. Eine Auswahl wird im Verwaltungstrakt des Abfallzweckverbandes auf dem Deponiegelände in Deiderode in einer Vitrine ausgestellt. Üblicherweise werden Waffen – Markus Rybarczyks Mitarbeiter fanden bisher Schreckschusswaffen, scharfe Waffen, Munition und einmal sogar eine Übungshandgranate, allerdings ohne Sprengstoff – aber der Polizei übergeben. Größere und gefährlichere Themen für den Abfallzweckverband und seine Mitarbeiter sind indes Akkus und Gasbehälter. Rybarczyk erklärt, dass insbesondere von modernen Hochleistungs-Akkus eine Brandgefahr ausgehe. Sie würden wie alle anderen Materialien in den Zerkleinerern in der Anlage zerstört, wobei Funken entstünden und die anderen Müllbestandteile in Brand geraten könnten. Mit Verweis auf die entsprechenden Sammelstellen sagt Rybarczyk: „Batterien gehören nicht in den Restmüll.“ Als besonders gefährlich beschreibt der Anlagen-Boss Gasbehälter. Wie die Kohlensäure-Flaschen, mit denen man sich zu Hause selbst sprudelndes Mineralwasser herstellen kann. Sind Behälter wie diese nicht vollständig geleert und werden dann im Zerkleinerer zerstört, werden ihre metallenen Hüllen schnell zu lebensgefährlichen Geschossen. „Wir haben schon Teile davon in der Decke stecken gehabt“, berichtet Rybarczyk. Die Scheiben an den Führerständen von Radladern und Greifbaggern bestehen deswegen aus Panzerglas. Rybarczyks Botschaft: Auch Gasbehälter gehören nicht in den Restmüll, sondern in den Wertstoffhof. Anlage soll besser werden: Trotzdem beschäftigt den Geschäftsführer, wie die Anlage und die Müllverwertung noch verbessert werden können. Über den Ansatz, von der Nassvergärung auf Trockenvergärung umzustellen, berichtete das Tageblatt mehrfach. Aktuell wird bei der Stadt Göttingen und den Kreisen Göttingen und Northeim nach einem nicht geglückten Ausschreibungsverfahren noch einmal neu nachgedacht. Rybarczyk beschäftigt außerdem die Frage, wie er recycelbaren Kunststoff noch besser aus der Restmüllmasse herausfischen könne – Bobbycars, Eimer und Rührschüsseln beispielsweise. Die hohen Kosten für eine technische Lösung und deren Nutzen stünden aber in keinem sinnvollen Verhältnis. Angesichts der großen Anteile von Verpackungsmüll in der grauen Tonne, die eigentlich in den Gelben Sack gehörten, sieht er die größten Verbesserungschancen deswegen beim Restmüll-Sortierverhalten der Bürger: „Da ist noch viel Potenzial“, meint Rybarczyk. Von Steffen Kahl