Geschichten über Kokain Rassismus und die essbare Pommesschale

Wo wurde das Kokain als Droge entdeckt? Woher kommt Rassismus? Wo wurde die essbare Pommesschale erfunden? Die Antwort auf alle drei Fragen ist dieselbe: in Göttingen. In der „Stadt, die Wissen schafft“, der Universitätsstadt, die 45 Nobelpreisträger hervorgebracht hat, wurden im Lauf der Jahrhunderte viele Erfindungen und Entdeckungen gemacht, die das Potenzial hatten, die Welt zu verändern. Die Geschichten von 20 dieser Neuerungen haben Katharina Trittel und Teresa Nentwig, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Universität, nun in einem Buch zusammengefasst – und, ob sie nun zum Fortschritt oder Leid der Menschheit beigetragen haben. „Entdeckt, erdacht, erfunden“ heißt der Sammelband, „20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum“ lautet der Untertitel. Geschrieben haben sie nicht alle Texte selbst, viele stammen von wissenschaftlichen Mitarbeitern, „die sich in dem jeweiligen Gebiet besser auskennen“. Das Cover ziert das windschnittigste Auto der Weltgeschichte: der Schlörwagen, wegen seiner Form auch „Göttinger Ei“ genannt. Auch die Geschichte des strömungsfreundlichen Aluminium-Fahrzeugs, das 1939 bei der Internationalen Automobilausstellung (IAA) für Staunen und offene Münder sorgte, haben die Autorinnen unter die Lupe genommen. Der Schlörwagen, auch „Göttinger Ei“ genannt, ziert das Cover des Buches „Göttinger Erfindungen – entdeckt, erdacht, erfunden“. Das Expirementalfahrzeug wurde 1939 von Ingenieur Karl Schlör von Westhofen-Dimstein an der Aerodynamischen Versuchsanstalt (AvA, heute Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt, DLR) in Göttingen entwickelt. Auf einem Mercedes-Fahrgestell ruht eine Karosserie aus Aluminium, die ausgiebig im Windkanal auf ihre Ströumgseigenschaften getestet wurde. Bis heute ist der ursprünglich gemessene Luftwiderstand, also der Cw-Wert, von 0,186 im Automobilbau unerreicht. „Wenn man einige Prototypen ausklammert, die nichts mit dem Automobil, wie wir es kennen, zu tun haben, ist es das windschlüpfrigste Auto aller Zeiten“, erläutert DLR-Mitarbeiter Jens Wucherpfennig. Seinen Spitznamen erhielt das Fahrzeug aufgrund der besonderen, nach hinten spitz zulaufenden Karosserieform. Da der Schlörwagen so wenig Luftwiderstand produzierte, war er sparsam und schnell. 20 bis 40 Prozent Treibstoff weniger verbrauchte das schwarze Ei mit den prominenten Front- und Seitenscheiben im Vergleich zum Serienfahrzeug. Trotz dieser Vorteile ging der Schlörwagen nie in Serie, denn „fahrdynamisch war er eine Katastrophe“, wie DLR-Mitarbeiter Sigfried Loose einmal schrieb. Zudem sei das Design einfach hässlich, sodass das Konzept bis heute nicht erneut aufgegriffen wurde. Mit einem am Heck angebrachten Propeller aus russischer Kriegsbeute wurde es nicht besser, für Aufsehen sorgte die Probefahrt in Göttingen im Jahr 1943 aber allemal. Wer sich selbst ein Bild vom „Göttinger Ei“ machen möchte, ist auf historische Aufnahmen angewiesen: Das Originalfahrzeug ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen. Das habe zum Mythos beigetragen, sagt Wucherpfennig. „Gerüchte, das Auto würde irgendwo in England in einer Garage stehen, sind nur genau das“, meint er. Ein Nachbau im Maßstab 1:5 steht inzwischen im Einbecker PS-Speicher, die DLR-Mitarbeiter müssen sich mit einem kleinen Modell aus Holz zufriedengeben. Doch die Konstruktion ist zeitlos: Zum 100-jährigen DLR-Jubiläum im Jahr 2007 stellten die Institutsmitarbeiter das Modell in den Windkanal. Es zeigte keinerlei Strömungsabrisse oder Verwirbelungen, denn das Design ist strömlinienförmig nah an der Perfektion. Erfunden im Sinne von erlogen: Auch der Buchtitel ist nicht zufällig gewählt: Erfunden kann für eine Neuheit stehen, aber auch für die Lüge, erläutern Nentwig und Trittel. Ein Kapitel befasst sich dementsprechend mit einem Vorgang an ihrer Alma Mater, als Forscher gefälschte Publikationslisten veröffentlichten. „Wir wollen auch zeigen, wohin der Druck der Gesellschaft führen kann.“ Geistige wie physische Erfindungen finden in ihrem Sammelband Erwähnung, die Tunnelsimulationsanlage des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums kommt ebenso vor wie das XLAB oder die Bihunsuppe. „Wir haben uns gefragt: In welchem Kontext entsteht Wissen?“, erläutert Trittel die Entstehungsgeschichte. „Wer an Göttingen denkt, denkt bei Erfindungen vielleicht eher an Zahlen, Formeln, Patente, Schriften – wissenschaftliche Entdeckungen und Ideen, zunächst in ihrer langweiligsten Form auf Papier gebannt“, heißt es etwa im Vorwort. Den Autorinnen ist die Ambivalenz der Forschung wichtig: Während einige Erfindungen die Welt zum Positiven verändern, können andere großen Schaden anrichten. „Wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht immer fördernd“, sagt Trittel. Elementar sei die richtige Erfindung zum richtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte. Es begann mit essbaren Pommesschalen: Bei der Recherche haben die Autorinnen alle Register gezogen, viele „gut vernetzte Menschen“ angesprochen. Manchmal kam auch der Zufall zu Hilfe: „Mein Doktorvater hatte einen Artikel gefunden, in dem von einer geheimnisvollen Sprache aus Göttingen die Rede war“, sagt Trittel. Andere Geschichten wiederum verliefen im Sande oder gingen buchstäblich in Rauch auf: „In meiner Jugend gab es mal essbare Pommesschalen“, erinnert sich Nentwig. „Geschmeckt haben sie nicht, aber sie kamen aus Göttingen“, fügt sie lachend hinzu. Doch was ist daraus geworden? Die Geschichte nahm ein tragisches Ende. Denn die Produktions- und Lagerhalle in Grone brannte Mitte der 1990er Jahre nieder, die Waffelfabrik Wiebrecht war am Ende. „Innerhalb kürzester Zeit war alles aus und vorbei“, sagt Nentwig. Die Recherche förderte bis auf wenige Artikel aus dem Göttinger Tageblatt keine Informationen mehr zutage, sagt sie. „Die Geschichte wird nunmal von den Siegern geschrieben“, erwidert Co-Autorin Trittel trocken. Überraschungen lauerten zudem an vielen Ecken: „Manche Texte waren ganz anders geplant“, sagen die Wissenschaftlerinnen, einige ließen sich wiederum nicht verifizieren, wie etwa die „verrückte Geschichte der selbstauslösenden Guillotine“. Geschichten von Rassismus und einer neuen Sprache: Einige der belegbaren Geschichten dagegen lassen den Lesern die Haare zu Berge stehen. So etwa die von Christoph Meiners. Der Göttinger Philosoph beschrieb 1785 in seinem „Grundriß der Geschichte der Menschheit“, dass „das gegenwärtige Menschengeschlecht aus zwei Hauptstämmen besteht.“ Der Kaukasische Stamm sei dabei dem Mongolischen in Körper, Geist und Tugend überlegen, behauptete er. Er erfuhr schon damals massiven Widerspruch nicht nur aus Göttinger Wissenschaftskreisen, doch „die Theorien, Thesen und Hypothesen [...] gehören zu der abgestandenen trüben Suppe, an der sich dann der rassisch motivierte Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts gütlich tat“, schreibt Peter Aufgebauer in seinem Kapitel über die Entstehungsgeschichte des Rassismus. Doch welche ist die wahnwitzigste Erfindung, die jemals in Göttingen gemacht wurde? „Das ist meiner Meinung nach die Geschichte von Karl Christian Friedrich Krause, der eine eigene Sprache erfand“, sagt Trittel. Der Philosoph vertrat nämlich Ende des 18. Jahrhunderts die Auffassung, die Beschaffenheit der Welt sei mit der gegenwärtigen Sprache nicht abzubilden. Sprache erfunden, mittellos gestorben: Also erfand er kurzerhand eine eigene, neue Sprache – und verpfuschte damit seine Zukunft. „Er hat ein wahnsinnig komplexes System erdacht“, meint die Autorin, „und ist damit katastrophal gescheitert.“ Die Geschichte von Karl Christian Friedrich Krause sei die eines hochbegabten Idealisten, der immer an seinem Plan festhält. Auch, nachdem dieser krachend gescheitert war. Denn seine stark religiös geprägte Sprache war einfach nicht zu verstehen. So schreibt Krause etwa: „Du sollst Wesen dir orinnigen, orwesenschaun, orwesenfühlen, orwesenwollen, orwesenschaufühlwollen...“ Die Sprache war zwar ausgereift, aber derart krude, dass Krause ihretwegen nicht etwa Ruhm oder wissenschaftlichen Glanz und Glorie erntete, sondern vielmehr von seinen Kollegen ins Abseits gestellt wurde. „Er galt als Spinner, als Freak“, so Trittel. An drei Hochschulen wurde ihm zeit seines Lebens ein Lehrstuhl verwehrt, am Ende starb er völlig verarmt und vereinsamt im Exil. „Das ist ein tragisches Beispiel eines absoluten Querdenkers“, betont Trittel. Kokain und Senfgas: Und was ist nun mit dem Kokain? „Die leistungssteigernde Wirkung der Koka-Blätter war in Südamerika schon früh bekannt“, erläutert Nentwig. Deren dunkles Kapitel wurde jedoch erst in Göttingen aufgeschlagen. Albert Niemann, Friedrich Wöhler und Wilhelm Lossen schufen im 19. Jahrhundert die Grundlage dafür, dass Kokain für den Massenmarkt hergestellt werden konnte. Der erst 25-jährige Doktorand Niemann isolierte als erster den Wirkstoff in seiner kristallinen Form und gab ihm den Namen Kokain. Zuvor hatte er Experimente mit Senfgas durchgeführt, an deren Folgen er letztlich höchstwahrscheinlich starb. Doch diese Forschung hatte ihm die Türen zu Wöhlers Chemie-Labor geöffnet. „Das Ziel, das Niemann verfolgte, ist schwer in Worte zu fassen“, sagt Nentwig. Vorrangig sei wohl die wissenschaftliche Neugier gewesen, auch die beruhigende und euphorisierende Wirkung der Koka-Pflanze besaß für die Arzneimittelforschung verlockende Dimensionen. Doch Niemann sollte seine Forschungen niemals abschließen: Kurz nach seiner Dissertationsschrift starb er in seinem Elternhaus in Goslar. Während er auf der Jagd nach einem leistungssteigernden Stoff war, verfiel Niemanns Körper aufgrund der zuvor zugezogenen Vergiftung mit Senfgas. 1862, ein Jahr nach seinem Tod, begann die Firma Merck mit der kommerziellen Kokain-Produktion. Somit wurde eine aus der Symbiose von Praxis und Wissenschaft gewonnene Droge gesellschaftsfähig. 20 Geschichten – und Potenzial für mehr: 20 solch aberwitziger, trauriger und erhellender Geschichten haben die Autorinnen in ihrem Buch aufgearbeitet – und sie hätten Material für mehr gehabt: „Wir könnten wohl noch 20 Geschichten für eine Fortsetzung schreiben.“ Dabei steht das Thema für ihr nächstes Buch doch eigentlich schon fest: Darin soll es um Göttinger Proteste gehen. „Entdeckt, erdacht, erfunden – 20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum“, Herausgegeben von Teresa Nentwig und Katharina Trittel, Vandenhoek & Ruprecht, ISBN: 978-3-525-31087-8, 263 Seiten mit 36 Abbildungen, 14,99 Euro. Die Autorinnen stellen das Buch am 11. November in der Göttinger Paulinerkirche offiziell vor. Katharina Trittel und Teresa Nentwig wurden in Göttingen geboren. Beide haben promoviert: Trittel mit einer Dissertation über den Göttinger Flugmediziner und Physiker Friedrich Hermann Rein, Politikwissenschaftlerin Nentwig über Hinrich Wilhelm Kopf, den ersten Hannoveraner Ministerpräsidenten. Die Wissenschaftlerinnen sind derzeit am Göttinger Institut für Demokratieforschung tätig. Vor „Göttinger Erfindungen“ haben sie bereits zwei Sammelbände voller Geschichten herausgegeben: „Göttinger Köpfe“ und „Göttinger Skandale“. Während es sich in den beiden Werken um Einzelpersonen dreht, stehen nun Ideen, Philosophien und Erfindungen im Vordergrund. Der Untertitel ihres neuen Buches „entdeckt, erdacht, erfunden“ ist bewusst mehrdeutig gewählt, denn es geht nicht nur um physische Erfindungen, sondern auch um Lügengeschichten. 20 Anekdoten haben die Göttingerinnen zusammengetragen, teils amüsant, teils traurig, teils einfach nur schockierend. Mehr zum Thema: Der legendäre Schlörwagen wurde vermutlich entsorgt Die Website des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt Entdeckt, erdacht, erfunden im Verlag Vandenhoek und Ruprecht Von Tobias Christ

„Entdeckt, erdacht, erfunden“ - Zwei Göttingerinnen schreiben Geschichten über Kokain und essbare Pommesschalen