Gleichen: Kulturverein zeigt szenische Lesung über NS-Verbrecher Eichmann

Den Begriff „Banalität des Bösen“ hat die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt 1962 nach Beobachtung des Prozesses um den NS-Verbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem geprägt. 20 Jahre später veröffentlichte Heinar Kipphardt das Dokument-Theaterstück „Bruder Eichmann“. Am Vorabend des 9. November, des Jahrestages der „Reichspogromnacht“, hat es der Kulturverein Rittmarshausen in komprimierter Form auf die Bühne gebracht. Bis zu 50 Zuschauer folgten am Bildschirm der szenischen Lesung mit der Göttinger Schauspielerin Maja Müller-Bula und dem Theaterpädagogen Christian Römer – übertragen aus seinem Studio in Weende. Römer spielte Eichmann, Müller-Bula schlüpfte in die Rolle seiner Interviewpartner, Pianist Alexander Tietz untermalte Einblendungen mit Stücken jüdischer Komponisten, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Umstrittenes Theaterstück: Drei Jahrzehnte hatte Kipphardt mit dem schweren Stoff gerungen. Das Stück war nicht unumstritten. Gegenwartsbezüge und die Ableitung von Verhaltensmustern aus den Verhörprotokollen brachten ihm den Vorwurf ein, den Holocaust zu relativieren und Eichmann zu entdämonisieren. Schon der Titel „Bruder Eichmann“ klingt provokativ. Bruder kann ein Mönch sein, aber ein Massenmörder? Dass dem Mann, der für die Deportation und Ermordung von Millionen europäischer Juden Verantwortung trug, die Reduzierung auf die Bezeichnung Schreibtischtäter nicht gerecht wird, wurde in der bedrückenden Inszenierung mit eingeblendeten Holocaust-Bildern und zeitgeschichtlichen Einsprengseln deutlich. Das Lügen, Heucheln, Leugnen, Drucksen, Abwiegeln und Beschwichtigen kennzeichnen Eichmanns Einlassungen, der sich als reinen Befehlsempfänger sah. Sätze wie „Meine Schuld war mein Gehorsam“, „Es wurde ja nicht alles getötet“, „Evakuierung und Fahrplangestaltung waren meine Aufgaben“, „Ich hatte nie etwas mit Gas zu tun“. „Ich wollte übereifrige Selektion verhindern“ , „Warum wird mir das immer wieder aufgetischt?“ sind schwer erträglich. Die Handvoll Zuschauer, die am Zoom-Nachgespräch teilnahm, blieb dann auch erst einmal lange stumm. „Es ist mir schwer gefallen, dabei zubleiben“ oder „Da fehlen mir die Worte“ hieß es dann. Auch Römer sagte, das Schneiden der Einblendungen habe ihn „immer wieder total ’runtergezogen“. „Funktionaler Mensch“ hinterfragt: Auf die damals aktuellen Zeitbezüge Kipphardts hat Römer verzichtet. Ihm ging es aber ebenso wie dem Autor um die Darstellung eines „funktionalen Menschen, der keine Verantwortung für seine Taten übernimmt“. Das hält auch Matthias Heintz vom Kulturverein für ein zeitloses Thema. „Der Faschismus auf leisen Alltagssohlen kann gefährlicher daherkommen, als das laute Brüllen glatzköpfiger Stiefelträger oder rechtspopulistischer Politstrategen“, heißt es in der Projektbeschreibung. Lesen Sie auch: Statt „Jazz ohne Gleichen“: Künstler spielen Open Air vor altem Schloss Christian Römer versteht sich auf Vorlesekunst Pogromnacht: Gedenken mit Video-Beiträgen am 9. November in Göttingen Das unmissverständliche Stück sei auch mit Blick auf Entwicklungen in der Gegenwart ausgewählt worden, sagte Heintz in der sich anschließenden Diskussion, er schlug einen Bogen vom Vokabular und den Verschwörungsfantasien in Trumps Wahlkampf bis zum Umgang mit der Corona-Pandemie. Das Theaterstück wecke den Wunsch, das Funktionale in sich selbst zu entdecken und zu hinterfragen: „Wie und an welcher Stelle kann es mir gelingen, den Mund aufzumachen und Position zu beziehen, wenn ich in Zwangskontexte gerate?“ Römer spitzte das zur Gewissensfrage zu: „Wieviel Eichmann steckt in uns?“ Abrufbar ist die szenische Lesung nicht. Der Rowohlt-Verlag habe nur die Rechte fürs Streamen, aber nicht für einen Upload eingeräumt, sagt Römer. Anders sieht das mit den weitgehend vergessenen jüdischen Komponisten aus. Weil sie vor mehr als 75 Jahren ermordet wurden, konnte der Pianist ihre Kompositionen verwenden. Adolf Eichmann war SS-Obersturmbannführer und Protokollführer der Wannsee-Konferenz, in der es um die Umsetzung des Holocausts ging. Für das Reichssicherheitshauptamt hat Eichmann die Massendeportation europäischer Juden in Vernichtungslager organisiert. 1960 wurde er von israelischen Agenten in Argentinien aufgespürt und nach Israel entführt. Der dort geführte öffentliche Prozess endete mit seinem Todesurteil, das 1962 vollstreckt wurde. Das auf Eichmanns Verhörprotokollen basierende Schauspiel „Bruder Eichmann“ wurde ein Jahr nach dem Tod seines Verfassers Heinar Kipphardt 1982 uraufgeführt. Regisseur Dieter Giesing nannte die Biografie Eichmanns exemplarisch. Im Deutschlandfunk wurde Giesinig 30 Jahre nach der Uraufführung zitiert: „Es war eigentlich ein ziemlich schmerzhafter Prozess, die Figur an sich ranzulassen. Denn das bedeutete natürlich auch, dass man die Normalität plötzlich kapierte, und mit Normalität auch sah, wieviel man selber mit der Figur zu tun hat.“ Lesen Sie auch: Statt „Jazz ohne Gleichen“: Künstler spielen Open Air vor Kulisse des alten Schlosses Christian Römer versteht sich auf Vorlesekunst Pogromnacht: Gedenken mit Video-Beiträgen am 9. November in Göttingen Von Kuno Mahnkopf