Freude am Leben: Anneliese Sievers aus Göttingen feiert heute zum 100. Mal Geburtstag

100 Jahre gelebt, 100 davon in Göttingen – Anneliese Sievers kam am 20. Februar 1921 in einem Haus an der Jüdenstraße zur Welt und hat die Stadt nur für Reisen verlassen. „Ewig bin ich in Göttingen geblieben, ich klebte an der Scholle“, so sagt es „Anne“, die geistig noch völlig fit ist und so selbstständig wie möglich in ihrem Appartment neben dem Seniorenzentrum am Ingeborg-Nahnsen-Platz wohnt. „Ich habe eine Hilfe – aber vieles mache ich noch selbst“, sagt die selbstbewusste Göttingerin. Dazu gehört das ständige Weiterbilden mit Politiksendungen – „dieser Rechtsruck ist schrecklich“ – und das morgendliche „Radfahren“ im Bett – „das mache ich wirklich immer noch“ – genauso wie die Selbstpflege. Die Fingernägel leuchten rot – „das habe ich immer gemacht und das gehört dazu“. Zu Sievers gehört noch viel mehr. Als Sonntagskind kam sie zur Welt. Ihre Eltern schickten sie in den 20er-Jahren erst auf die Lutherschule (heutige BBS am Ritterplan), dann auf das Oberlyzeum am Friedländer Weg. „Ich wäre gern Friseurin geworden, aber dann kam der Krieg, und ich ging in die Zahnhelferlehre“, so Sievers. „Ich hatte eine schöne Jugend, mir ging es immer gut“, sagt sie. Geschwisterliebe zahlt sich aus: Sievers war im Bund deutscher Mädchen (BDM), aber auch im Turnverein 46. Der Sport war ihr immer wichtig. „Meine Eltern hatten schon ein kleines Auto, als ich zur Grundschule ging. Jeden Morgen vor dem Unterricht bin ich zum Schwimmen gefahren mit ihnen“, erzählt sie. Erst im Leinekanal, dann im Freibad am Brauweg. Da hieß sie noch Margraf mit Nachnamen. Der Vater starb und ihre Mutter heiratete erneut. Walter Rowold übernahm die Vaterrolle und Anne bekam einen Halbbruder, der auch heute noch an ihrer Seite steht. „Mindestens einmal die Woche besuche ich meine Schwester“, erzählt der heute 84-jährige Herbert Rowold, der auch beim Gespräch mit dem Tageblatt im Wohnzimmer seiner Schwester sitzt. „Es ist wunderbar, dass er heute da ist“, so Sievers. In Göttingen war lange das freie Flussbaden in der Leine en vogue. 1819 eröffnete die Universitäts-Badeanstalt in der Leine in der Nähe der Walkemühle, wo sich ein natürliches Becken mit ausreichender Wasserhöhe gebildet hatte. Zwei Schwimmmeister wachten über die Badestelle. 1904 standen in Göttingen dann schon drei Badeanstalten zur Auswahl: Außer der Universitätsbadeanstalt gab es noch die Städtische Badeanstalt an der Bürgerstraße im Leinekanal – wo Anne Sievers schwimmen lernte – und die städtische Volksbadeanstalt am Leinekanal westlich des heutigen Felix-Klein-Gymnasiums. Ende des 19. Jahrhunderts wurde zudem für Frauen eine Damen-Badeanstalt im Feuerteich geschaffen. 1927 wurde das Freibad Brauweg eröffnet und damit das Ende der Flussbadeanstalten eingeleitet. Sievers war damals sechs Jahre alt und ging mit ihren Eltern vor der Schule dort schwimmen – jeden Tag, sagt sie. Die Universitäts-Badeanstalt ging 1931 im Freibad auf, die städtische Badeanstalt an der Bürgerstraße wurde 1952 zugeschüttet. Herberts Vater Walter war selbstständiger Versicherungskaufmann und durchlebte den Nationalsozialismus mit seiner Familie, ohne in die NSDAP einzutreten, sagt sein Sohn. Im Feuerschanzengraben lebte die Familie auf drei Etagen zusammen, auch das Versicherungsbüro hatte seinen Sitz dort. Anne übernahm dort die Buchhaltung im Krieg. „Wir haben immer viel gefeiert, viele Gäste gehabt, uns mit Menschen aus vielen Ländern getroffen – das haben unsere Eltern uns in die Wiege gelegt“, sagt Anne. Als Mitglied der 63er-Schützen und weiterer Netzwerke hatten die Eltern einen großen Kreis. Beim Kaffee den Ehemann gefunden: Eines Tages luden sie Freunde aus Kassel zum Kaffee ein, die ihren Sohn Heinz Sievers mitbrachten. Anne und Heinz entdeckten schnell eine gemeinsame Leidenschaft – das Schwimmen. Mit 25 Jahren sagte Anne „Ja“, der gemeinsame Sohn Bernd kam zur Welt. Das Ehepaar schwamm erst im Schwimmverein Hellas, dann gründeten sie den ASC Göttingen 1980 mit, Heinz trainierte dort die Wasserballjugend. Und immer wieder verreisten sie. „Wir waren fünf befreundete Ehepaare die Europa bereisten – nach Amerika hab ich es leider nie geschafft“, sagt Sievers. „Immer ans Wasser ging es bei uns.“ Im Privaten führte das Paar Moritaten auf, brachte die ganze Familie immer wieder zum Lachen, sagt ihr Bruder. Aus dem Stegreif sagt Sievers „Die Made“ von Heinz Erhardt auf – „das mag ich so gerne“. Die positive Einstellung wurde mehrfach getrübt – erst starb ihr Sohn mit 37 Jahren nach einer Krankheit, dann ihr Mann 2002. „Mittlerweile gibt es kaum noch Menschen in meinem Alter, die ich kenne“, sagt sie. Eine aber auf jeden Fall – „in der Jüdenstraße hatte ich ein Nachbarskind, das lebt nun drüben im Seniorenzentrum“, so Sievers. Wieder nur ein paar Meter entfernt. Das Leben feiern: Ohne die Beckenbrüche und den Hautkrebs würde Sievers immer noch komplett selbstständig in der eigenen Wohnung leben. Bis vor sechs Jahren ist sie jeden Tag die 66 Stufen zu ihrer Wohnung mehrfach täglich gelaufen. „Das hat mich fit gehalten – aber nunja, ich habe getrunken, geraucht, 40 Pfund mehr drauf gehabt – ich habe gesündigt. Und trotzdem bin ich so alt geworden“, sagt sie lachend. „Wenn es um Emanzipation geht, kann meiner Schwester niemand etwas vormachen“, ergänzt ihr Bruder. Gerne würde sie heute im großen Kreis feiern, das geht aber leider nicht. „Alle sagen – wir holen das nach. Und ich hoffe, dass ich dann noch da bin“, sagt sie weniger bedauernd als mit Kampfgeist im Blick. „Und wenn nicht – ich will keine Trauerfeier. Sie sollen das Leben feiern!“ Von Lea Lang

100 Jahre Anneliese Sievers in Göttingen - ein besonderer Geburtstag