Bomben-Fehlalarm im Oktober 2019: Als Göttingen den Atem anhielt

Rund um den Göttinger Schützenplatz hat es in den vergangenen Jahren immer wieder vermeintliche Bombenfunde gegeben. Am 12. Oktober 2019 mussten etwa 14 000 Menschen ihre Häuser verlassen, denn am Schützenanger war der Kampfmittelbeseitigungsdienst im Einsatz. Ein Rückblick. Bei Sanierungsarbeiten an den Abwasserrohren war ein metallischer Gegenstand geortet worden. Die Experten des Kampfmittelbeseitigungsdienstes Niedersachsen gingen davon aus, dass es sich um eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg handelte. Der Gegenstand befand sich in zweieinhalb Metern Tiefe. Um sicher zu sein, um welchen Typ von Bombe es sich handelt, müsse diese aber zunächst vollständig freigelegt werden, hieß es damals. Für das weitere Vorgehen sei entscheidend, welche Art von Zünder verbaut wurde. Bei einem sogenannten Aufschlagzünder könne vor Ort entschärft werden, bei Säurezündern nicht. Letzteren hielten die Experten für wahrscheinlicher. Mehr noch: Vermutet wurde gar eine 500-Kilogramm-Bombe. Göttingen hält den Atem an: Die Fundstelle wurde mit einem drei mal vier Meter großen Verbau ummantelt und der Bereich auf zweieinhalb Meter Tiefe ausgehoben. Da man mit einer erheblichen Menge Grundwasser rechnete, wurden um die Grube herum Löcher gebohrt, über die der Wasserspiegel abgesenkt werden sollte. Für eine eventuelle kontrollierte Sprengung wurden sogenannte Big-Bags, mit Sand und Wasser gefüllte Behälter, um die Bombe platziert, um die erste Sprengwirkung so gering wie möglich zu halten. Ob ein Blindgänger entschärft werden kann oder kontrolliert gesprengt werden muss, entscheidet die Art des Zünders. Handelt es sich um einen Aufschlagzünder, ist eine Entschärfung per Hand möglich, erläutert Sprengmeister Thorsten Lüdeke. Wie der Name sagt, hätte die Bombe beim Aufschlag auf die Erde detonieren sollen. Der Mechanismus könnte nach etwa 75 Jahren im Boden zwar durch Rost angegriffen sein, dennoch ist eine Entschärfung weniger gefährlich als bei einem Säure- oder Langzeitzünder. Dabei hält eine Scheibe aus Zelluloid oder Kunststoff den Schlagbolzen fest. Beim Aufprall auf der Erde zerbricht eine Glas-Ampulle voller Aceton. Das Lösungsmittel löst das Zelluloid auf und den Schlagbolzen aus, es kommt zur Explosion. Diese Zündmechanismen haben häufig versagt, ihr Anteil an den Blindgängern ist besonders hoch. Kam die Bombe zum Beispiel verkehrt herum zur Ruhe, tropfte das Aceton nicht wie vorgesehen direkt auf das Zelluloid. Am Tag der Entschärfung glich Göttingen dann einer Geisterstadt. Kaum ein Auto war auf den Straßen rund um das abgesperrte Gebiet zu sehen. Der Bahnhof hatte früh morgens die Rolltore heruntergelassen, Zug- und Busverkehr standen still. Es war, als hielte die ganze Stadt den Atem an. Die Evakuierung war zuvor problemlos verlaufen: Die Anwohner wurden mit Bussen abgeholt und in Unterkünfte gebracht, wo sie mit Essen und Getränken versorgt wurden. 734 Einsatzkräfte hatten für einen reibungslosen Ablauf gesorgt. Für Verzögerungen sorgten lediglich einige Aktivisten, die am Leineufer auf Bäume geklettert waren. Polizeisprecherin Jasmin Kaatz sprach von einer „völlig unangemessenen Aktion“, die Reaktionen in den sozialen Medien fielen von der Wortwahl her drastischer aus. Dann begann das Warten. 2010 sterben drei Menschen bei einer Bombenentschärfung: Um 13.37 Uhr vermeldete die Stadt Göttingen auf ihrer Homepage: „Der Kampfmittelbeseitigungsdienst hat eine Bombe im Boden ausfindig gemacht.“ Eine Falschmeldung – denn Sprengmeister Thorsten Lüdeke hatte bereits Entwarnung gegeben. Bei der Bombe handelte es nämlich lediglich um eine „komprimierte Masse aus Blechfässern, Tonziegeln, Schlacke und einer knüppeldicken Rostschicht“, sagte er im Oktober 2019. Die Stadt korrigierte die Meldung umgehend, Sprecher Dominik Kimyon sagte, es habe sich um einen Kommunikationsfehler gehandelt. Die Notunterkünfte leerten sich schnell, Normalität kehrte wieder ein. Alle waren glücklich, dass sich der Verdacht nicht bestätigt hatte – das war in Göttingen nicht immer so. Am 1. Juni 2010 waren bei der Entschärfung einer Bombe auf dem Schützenplatz drei Mitglieder des Kampfmittelbeseitigungsdienstes ums Leben gekommen, als der Sprengsatz detonierte. Zwei weitere wurden verletzt. Und der Moment des Knalls, als viele Göttinger sofort wussten, dass der ein Unglück bedeutete, hat sich in das Gedächtnis der Stadt eingeprägt. Von Tobias Christ