Bombenentschärfung in Göttingen: So erleben Bewohner in der Weststadt die bevorstehende Evakuierung

Über Göttingen legt sich zum wiederholten Mal in diesem Januar eine dünne weiße Decke. Es schneit, und damit müsste die Frage, wem oder was die Aufmerksamkeit eines Menschen wie Charlotte in diesem Moment gilt, eigentlich geklärt sein. Doch das kleine Mädchen hat auf den Schultern seines Vaters sitzend nur Augen für etwas weit weniger idyllisches – nämlich für eine Baustelle, auf der Container gestapelt werden und unter der höchstwahrscheinlich Bomben liegen. Charlottes Vater geht es nicht anders: Warm eingepackt wie seine Tochter schaut sich Felix Maiwald das Geschehen auf der Baustelle an der Godehardstraße genau an. Große Übersee-Container stehen da, wie eine massive Mauer, die irgendetwas vor neugierigen Blicken verbergen soll. Davor stehen Autos, die aussehen, als gehörten sie der Polizei, die aber in Wirklichkeit zum Kampfmittelbeseitigungsdienst Niedersachsen gehören. Und über allem die dünne Schneedecke, die dem ganzen eine irgendwie unwirkliche Note verleiht. „Abgefahren“ – und nicht das Schlimmste: Diesen Anblick kennt Familie Maiwald mittlerweile in- und auswendig. Mit seiner Frau und zwei Töchtern wohnt Felix Maiwald in einem der Wohnhäuser, die direkt an die Baustelle grenzen. „Wir haben Logenplätze“, sagt der Familienvater. Von dort kann er sehen, was die Container verbergen: Eine grob ausgehobene Grube, in deren Mitte eine Abdeckung über ein noch tieferes Loch platziert liegt. Der Anblick hat etwas Dystopisches. Heute schauen sich Vater und Tochter Maiwald das Ganze einmal von der anderen Seite an. Dank der Container fühle er sich sicherer als noch vor einigen Tagen, sagt Felix Maiwald. Vorher sei das anders gewesen: „Als wir gesehen haben, wie da einfach immer weiter gebuddelt wurde, ist uns schon mulmig zumute geworden.“ Die Evakuierung verbringt Familie Maiwald bei den Großeltern – den Corona-Lockerungen für Betroffene sei Dank. „Mit zwei Kindern ins Hotel? Das wäre nichts geworden“, ist sich Maiwald sicher. Die jüngere Tochter kam erst im Dezember 2020 auf die Welt, und die ältere ist ebenfalls noch klein genug, auf den Schultern ihres Vaters zu sitzen und staunend die großen Container anzuschauen. Sorgen mache er sich jetzt noch um die Statik der umstehenden Häuser, sagt der junge Mann. Aber, schränkt er sogleich ein, das sei ein vergleichsweise geringes Problem zu anderen Szenarien. Im Moment überwiegt aber offensichtlich die Faszination: „Abgefahren“, fasst Maiwald zusammen, was da zwischen seiner Wohnung und der Godehardstraße passiert. „Furchtbar“ – und damit genug: An der Straße scheint die Baustelle nicht recht enden zu wollen. Warnschilder und Wegweiser, Absperrungen und provisorisch angelegte Fußgängerwege, die Schläuche der Feuerwehr, die die Container mit Wasser aus der Leine befüllt, und überall Fahrzeuge von Feuerwehr, Kampfmitteldienst und anderen beteiligten Organisationen zeigen: Hier ist Großes im Gange. Ein Stückchen weiter, auf der anderen Seite der St.-Godehard-Kirche, werden auf der gesperrten Pfalz-Grona-Breite die nächsten Container aufgestellt. Hier liegen wahrscheinlich zwei Bomben nur wenige Meter auseinander – und nur wenige Meter von zwei Wohnhäusern und einem Gotteshaus entfernt. Ein Bauzaun mit orangefarbenen Planen verdeckt die Sicht, davor steht ein Fahrzeugkran mit dem nächsten Container am Haken. Hier wird gedreht: Der NDR ist da und interviewt Sprengmeister Thorsten Lüdeke, der am Wochenende die Bomben unschädlich machen soll. Männer in gelben Warnwesten diskutieren die nächsten Schritte beim Aufbau der Schutzwände, während der Schneefall langsam zunimmt. Ein älterer Herr kommt bepackt mit Papiertüten vom Einkauf zurück und steuert zielstrebig an der Baustelle vorbei auf seine Haustür zu – fünf Meter weiter steht der vor Anstrengung laut brummende Fahrzeugkran. Wie erlebt der Anwohner die Situation? „Dazu sage ich jetzt nichts, das ist alles schon furchtbar genug!“, sagt der vom Einkauf zurückgekehrte, winkt ab, kramt den Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt hastig die Haustür auf, um darin zu verschwinden. Felix Maiwald und seine Tochter stehen wenige Meter weiter und begutachten die Dreharbeiten. „Unheimlich“ – und so noch nicht dagewesen: Die Reaktion des direkten Anliegers verdeutlicht es: Über der Weststadt liegt schwer greifbar, aber unleugbar eine gedrückte Stimmung. Wegen Corona sind die Menschen auf der Straße meist allein unterwegs, Gespräche führen nur die Bauarbeiter hinter ihren Absperrungen. Davor entlang läuft vorsichtig – der Schnee ist rutschig –, mit ihrem Handwagen im Schlepptau, eine Frau und wirft sorgenvolle Blicke in Richtung Bauzaun. „Das ist unheimlich“, sagt Frau Schmidt – ihren Vornamen möchte sie nicht verraten – auf die Frage, wie sie sich in Anbetracht der anstehenden Bombenräumung fühle. Dabei sei sie in dieser Hinsicht erfahren, ihre fünfte Evakuierung wird es sein am Wochenende. Aber: „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Die Kulisse, die die Container erzeugten, mache alles noch beunruhigender. „In der ganzen Nachbarschaft haben die Leute ein bisschen Angst“, berichtet Schmidt – das sei neu. Sie selbst komme am Wochenende bei einer Freundin unter, sagt Schmidt. Währenddessen werde sie das Beste für alle Beteiligten hoffen: „Hoffentlich geht alles gut. Ich denke sehr viel an die Menschen, die dort arbeiten.“ Just in diesem Moment beginnen die Kirchenglocken von St. Godehard zu läuten – 12 Uhr mittags. Den Lärm des Krans übertönen sie deutlich. Für Schmidt ein gutes Zeichen: „Solange die Kirchenglocken noch läuten, ist alles gut“, bemerkt sie über den Lärmpegel hinweg. Damit ist dann alles gesagt – Schmidt macht sich auf den wegen der Sperrung der Pfalz-Grona-Breite aktuell etwas längeren Weg zu ihrer Wohnung im Narzissenweg. Nicht jeder scheint sich indes so viele Gedanken zu machen. Der Verkehr fließt auf der Godehardstraße vorbei wie auch sonst, nur eben auf verengter Fahrbahn. Vor allem auf der gegenüberliegenden Straßenseite würdigt mancher Passant dem Treiben hinter Absperrungen und Bauzäunen keines Blickes. Eine junge Frau konzentriert sich ganz auf ihr Smartphone. Lesen Sie auch: Bombenentschärfung in Göttingen 2021: Alle Infos im Liveticker FAQ zur Evakuierung am 30.01.2021 Daran müssen Sie vor der Evakuierung denken Das ändert sich für Bus und Bahn Wer sich hingegen die Mühe macht, einmal nah an den Bauzaun vor der Kirche heranzutreten, kann einen Blick auf die Stellen erhaschen, an denen die Bomben vermutet werden. Und der lädt dazu ein, wilde Fantasien zu entwickeln: Die Abdeckungen für die Gruben scheinen verkabelt, neben ihnen steht eine orangefarbene, leise ratternde Maschine und manches Kabel zuckt im Takt. Dem Laien erschließt es sich nicht sofort – die vermeintlichen Kabel sind Schläuche, mit denen das Grundwasser auf einem bestimmten Pegel gehalten wird, um die vermutlichen Blindgänger stabil zu halten. In Verbindung mit den umstehenden Containerwänden ergibt sich ein allemal beeindruckender Anblick. „Bedrückend“ – und irgendwie ganz normal: Was aus der Nähe beeindruckt, tut das aus einigen Metern Entfernung noch einmal auf ganz andere Weise. Von der Bushaltestelle gegenüber, mit dem Überblick über den Kran, die Container und die Absperrungen im am Mittwochmittag immer stärkeren Schneegestöber, drängt sich mit dem Wissen, dass das alles für eine groß angelegte Bombenräumung ist, wieder dieses leicht dystopische Gefühl auf – auch bei Jutta Semmler, die hier auf ihren Bus in die Stadt wartet. „Das ist einfach bedrückend“, sagt Semmler und erzählt von vergangenen Evakuierungen, die sie mitgemacht hat – auch von der im Juni 2010, bei der drei Mitarbeiter des Kampfmittelbeseitigungsdienstes ums Leben kamen, als ein Blindgänger detonierte. Dieses Unglück wirkt in Göttingen bis heute nach. Auch Semmler bewegt der Gedanke an 2010 sichtlich. „Diese Leute legen sich so ins Zeug für uns. Ich hoffe das Beste für sie“, betont sie. Durch den Schnee nähert sich der Bus. Semmler nutzt die Zeit für einen Blick auf das Positive: Die Evakuierung werde sie bei ihrer Tochter verbringen. „Richtig eingeladen“ sei sie. Ein Lob für die Informationspolitik der Stadt hat sie auch noch übrig, dann muss sie einsteigen – solange nicht Sonnabend ist, geht das Leben in der Weststadt schließlich doch noch irgendwie seinen ganz normalen Gang. Von Tammo Kohlwes