Bombensprengung in Göttingen: So gefährlich war die Lage nach der Fehlzündung

Drei Explosionen statt vier – als in der Nacht auf Sonntag, 31. Januar, die von Sprengmeister Thorsten Lüdeke freigelegten Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg in Göttingens Weststadt gesprengt wurden, meinte wohl mancher in Hörweite der Detonationen, sich verzählt oder verhört zu haben. Die Realität war bedeutend bedrohlicher: Die Bombe direkt an der Leineaue war nicht wie geplant explodiert. Dabei zählte jede Minute, wie Thomas Bleicher, Leiter des Kampfmittelbeseitigungsdienstes Niedersachsen, im Nachhinein bestätigt – denn minütlich stieg das Risiko einer ungeplanten Detonation. Es sei ein beunruhigendes Gefühl, wenn die Sprengmeister ein weiteres Mal an die Bombe herangehen müssten, sagt selbst ein erfahrener Kampfmittelräumer wie Bleicher. Das Problem: Mit jeder Minute, die eine Weltkriegsbombe frei daliegt, steigt das Risiko, dass sie von selbst explodiert. Damit war sie zu keinem Zeitpunkt höher als in dem Moment, als Lüdeke und sein Kollege Marcus Rausch ein zweites Mal zur Bombe herabsteigen mussten. Mit jeder Minute stieg die Gefahr einer unkontrollierten Explosion: Drei weitere Bomben waren zu dem Zeitpunkt bereits planmäßig aus der Ferne gesprengt worden. Bei Nummer vier streikte die Funkanlage, über die die Explosion eigentlich ausgelöst werden sollte. „Wir hatten ein technisches Problem mit der elektrischen Zündung“, erklärt Bleicher. Das sorgte in der Sonntagnacht nicht nur bei den direkt betroffenen Sprengmeistern für höchste Anspannung. Bei der ersten Pressekonferenz nach dem großen Knall berichtete Göttingens Erster Stadtrat Christian Schmetz (CDU) bereits von großer Sorge bei allen Beteiligten im Krisenstab der Stadt: In diesen Minuten habe man im Lagezentrum des Krisenstabs an der Breslauer Straße eine Stecknadel fallen hören können. Lesen Sie auch Bombenräumung in Göttingen: Die Ereignisse im Überblick Evakuierung und Sprengung von vier Blindgängern: Göttinger danken in den sozialen Netzwerken den Einsatzkräften der Nacht zu Sonntag So bereitete sich Sprengmeister Thorsten Lüdeke auf die Bombenräumung vor Doch zum zweiten Versuch gab es keine Alternative – obwohl und gerade weil Fliegerbomben nach mehr als 75 Jahren nach ihrer Freilegung ausgesprochen labil seien, wie Kampfmittelräumer Bleicher betont: „Je länger der in seiner ,Ruhe’ gestörte Bombenblindgänger mit Langzeitzünder offen in der Baugrube liegt, desto größer ist die Gefahr einer Selbstdetonation.“ Denn Langzeitzünder funktionieren mit feinsten Metallfedern, bei vielen genügt der Zerfall einer dünnen und fragilen Zellulose-Schicht, um die Explosion auch mit Jahrzehnten Verspätung auszulösen. Bombensprengung in Göttingen: Wettlauf gegen die Zeit und das Wasser: Ebenso alternativlos sei gewesen, so Bleicher weiter, dass der zweite Versuch durch die Sprengmeister selbst vorbereitet werden musste: „Einen Roboter, der eine Leiter hinab in einen Bombentrichter steigt und einen Zünder herausschrauben kann, gibt es nicht.“ Allen Beteiligten dürfte dabei das Jahr 2010 im Hinterkopf präsent gewesen sein – auch da zündete eine Bombe in Göttingen von selbst, nachdem sie von Sprengmeistern freigelegt worden war. Die Explosion am Schützenanger kostete drei Menschen das Leben. „Es war höchste Zeit“, fasst Bleicher zusammen. Denn außerdem war da am letzten Januarwochenende noch das Problem mit dem steigenden Grundwasser: Höher hätte das Wasser der Leine nicht steigen dürfen, bestätigte Bleicher bereits in der Pressekonferenz am Sonntag nach der Sprengung – und es war in der betreffenden Nacht im Steigen begriffen. „Direkt an der Leine drückte das Wasser entgegen der Pumpleistung bereits wieder in die Baugrube“, so Bleicher. Dies habe zwar für sich genommen nicht das Risiko einer Explosion, aber den Zeitdruck auf die Sprengmeister noch einmal erhöht, da ihnen das Wasser sonst das Arbeiten in der Grube schwer bis unmöglich gemacht hätte. Das Tückische an einem Säure- oder Langzeitzünder ist dessen Funktionsweise. Dabei hält in den meisten Fällen eine Scheibe aus Zelluloid oder Kunststoff den Schlagbolzen fest. Beim Aufprall auf der Erde zerbricht eine Glas-Ampulle voller Aceton. Das Lösungsmittel löst das Zelluloid auf und den Schlagbolzen aus, es kommt zur Explosion. In wenigen Bomben sorgt eine feine Metallfeder für die Zündung. Diese Zündmechanismen haben häufig versagt, ihr Anteil an den Blindgängern ist besonders hoch. Kam die Bombe zum Beispiel verkehrt herum zur Ruhe, tropfte das Aceton nicht wie vorgesehen direkt auf das Zelluloid. Normalerweise kann der Zünder über die Aceton-Menge zwischen einer und 144 Stunden eingestellt werden – 75 Jahre waren nicht vorgesehen. Deshalb ist bei Bomben dieser Art nicht nur Vorsicht geboten, sondern eine Sprengung unvermeidlich. „Ein Langzeitzünder kommt irgendwann, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, erklärt Sprengmeister Thorsten Lüdeke. Von Tammo Kohlwes