CDU befürchtet Sozialbetrug in Göttinger Problemimmobilien

Die Corona-Infektionsausbrüche in den Wohnkomplexen Idunazentrum und Groner Landstraße 9 im Frühjahr hat besagte Immobilien nicht nur in die überregionalen Medien sondern auch wieder auf die Agenda der Göttinger Kommunalpolitik gebracht. Vor allem die CDU-Ratsfraktion bemüht sich seither intensiv, Informationen zu sammeln und mögliche Missstände aufzudecken. Die Christdemokraten wittern Sozialbetrug in großem Stil und administratives Versagen der Stadtverwaltung. Nachdem im Juni öffentlich bekannt geworden war, dass städtische Mitarbeiter Wohnungssuchende entgegen gültiger Richtlinien in die Groner Landstraße 9 vermittelt hatten, rief die CDU eine fraktionsinterne Arbeitsgruppe ins Leben. Diese formuliert seither regelmäßig Anfragen an die Verwaltung und Anträge im Rat. Im Zentrum der bisherigen Bemühungen steht dabei die Millionenfrage: Geht es bei den jährlich fließenden Unterkunftskosten an die Mieter beziehungsweise die Vermieter der Groner Landstraße 9 mit rechten Dingen zu. „Zu viel Geld“: CDU-Fraktionschef Olaf Feuerstein sagt dazu: „Wir sind sicher, dass hier zu viel Geld fließt.“ Und er nennt auch eine Größenordnung. Mindestens ein fünftel der rund eine Millionen Euro würden nach seiner Schätzung zu viel bezahlt. Das werde dadurch möglich, dass in der Erfassung der Anträge keine eindeutige Zuordnung von Antragsteller und jeweiligem Appartement möglich sei – ein Software-Problem. Dadurch entstehe die Situation, dass die Stadtverwaltung zwar zahle, aber nicht nachvollziehen könne, welche unterschiedlichen Miet- und Untermietverhältnisse in dem Hochhaus vorherrschen, so der Vorwurf der CDU. Aus der Beantwortung einer Anfrage vom September 2020 geht hervor, dass 542 Bewohner der insgesamt rund 700 Bewohner in den 432 Wohneinheiten des Komplexes Groner Landstraße 9 Zuschüsse zu den Kosten der Unterkunft nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II und XII) und dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten. Außerdem weist die städtische Statistik 247 Bedarfsgemeinschaften aus, die in 88 Fällen aus nur einer Person bestehen. Für die CDU ein mögliches Indiz für Sozialbetrug. Stadt trägt eine Mitschuld: Allerdings will man in den Reihen der CDU nicht den schwarzen Peter auf Seiten der Mieter suchen. Vielmehr habe sich hier ein System der Profitmaximierung der Eigentümer entwickelt, an dessen Aufrechterhaltung die Stadt – wenn auch ungewollt – eine Mitschuld trage, schrieb die CDU in einer Mitteilung bereits im Juli. „Für uns ist das ein sozialpolitisches Thema“, sagt Feuerstein. Eines, das sich sicher nicht kurzfristig lösen lasse. Und so dringt man auf Akteneinsicht, will die Berichte über die regelmäßigen bau-, sicherheits- und sozialrechtlichen Kontrollen durch städtische Mitarbeiter lesen. Mal regt die CDU-Fraktion die Diskussion darüber an, ob die Stadt sich im Namen der Mieter für bessere Wohnbedingungen einsetzen könnte. Mal will sie sichergestellt wissen, ob alle möglichen Förderprogramme für die Quartiersarbeit ausgeschöpft würden. Das sagt die Dezernentin: Adressatin der Kritik, der Fragen und Vorschläge von Seiten der CDU ist die Stadtverwaltung. Petra Broistedt, zuständige Dezernentin und mögliche SPD-Kandidatin für die Oberbürgermeisterwahl im kommenden Jahr hat dem Tageblatt Fragen zum Komplex an der Groner Landstraße beantwortet. Die CDU spricht bei der Groner Landstraße 9 von einer der „Göttinger Problemimmobilien“. Wie bewerten Sie die Wohnsituation in den Gebäuden? Unbestritten ist, dass es sich bei den genannten Immobilien um Gebäude mit teils prekären Wohnverhältnissen handelt. Nicht selten leben dort sehr viele Menschen auf engstem Raum zusammen. Hinzu kommt, dass Eigentümer solche Gebäude nicht immer so sanieren, wie es wünschenswert wäre, damit die Bewohner dort gut leben können. Dies alles führt dazu, dass überwiegend Menschen dort Wohnungen anmieten, die sonst auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance haben. Das verstärkt soziale Problemlagen. Zu Zeiten des Corona-Ausbruchsgeschehens hat die Stadtverwaltung Gespräche mit der Hausverwaltung sowie dem Haupteigentümer der Appartements der Groner Landstraße 9 geführt über ein Hygienekonzept geführt. Hat dieses heute noch Gültigkeit? Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz müssen der jeweiligen Situation angemessen, erforderlich und verhältnismäßig sein. Die Anordnung zur Erstellung und Umsetzung eines Hygienekonzeptes musste deshalb – auch aufgrund eines gerichtlichen Nachspiels – befristet werden. Die Befristung ist inzwischen ausgelaufen. Für eine erneute Anordnung besteht aktuell nach dem Infektionsschutzgesetz keine rechtliche Grundlage. Die Hausverwaltung der Immobilie hat uns bestätigt, dass unserer Empfehlung zur Umsetzung eines Hygienekonzeptes weiterhin gefolgt werde. Insbesondere werden öffentlich zugängliche Bereiche regelmäßig gereinigt, Kontaktflächen desinfiziert und Bewohner zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes angehalten. Immer wieder wurde eine Verbesserung der Wohnsituation in dem Wohnkomplex an der Groner Landstraße gefordert und von Eigentümerseite angekündigt. Inwieweit ist die Stadtverwaltung bei der Umsetzung oder Überprüfung involviert? Bringt das neue Wohnungseigentumsgesetz neue Möglichkeiten? Solange die Wohnungen nicht unbewohnbar sind, hat die Stadt nur wenig Handhabe, einzugreifen. Feuerwehr, Ordnung- und Gesundheitsamt führen regelmäßig Begehungen in den Objekten in Hinblick auf Brandschutz, Hygiene und/oder Schädlingsbefall durch und mahnen die Behebung festgestellter Mängel an. Wir sind im Gespräch mit den Hausverwaltungen sowie den Mehrheitseigentümern. Letztere wollen sanieren, passiert ist aber noch nicht viel. Das mag daran liegen, dass die Änderung des Wohnungseigentumsgesetz, nach der bei baulichen Veränderungen nicht mehr das Einstimmigkeits-, sondern das Mehrheitsprinzip gilt, erst zum 1. Dezember in Kraft trat. Grundsätzlich lässt sich die Wohnsituation nicht kurzfristig lösen. Das ist ein längerer Prozess. Ein wichtiger Baustein ist dabei die Zusammenarbeit mit den Hausverwaltungen und den Mehrheitseigentümer. Es wird im Wesentlichen darauf ankommen, dass die Eigentümer bereit sind, erforderliche Instandhaltungs-, Modernisierungs- und Sanierungsmaßnahmen der Wohnungen und des Wohnumfeldes auch wirklich in Angriff zu nehmen. Daneben sind Unterstützungsangebote für die Mieter flankierend möglich und erforderlich. Es ist die Rede von einer Millionen Euro, die die Stadt Göttingen an Unterkunftskosten (SGB II, SGB XII, AsylbLG) in der Groner Landstraße 9 jährlich zahlt. Trifft diese Zahl in etwa zu? Ja, die Größenordnung stimmt. Ist es korrekt, dass die Stadt für insgesamt 542 Personen ganz oder anteilig die Kosten der Unterkunft übernimmt, aber nicht registriert wird, in welchem Appartement diese wohnen? Wie bewerten Sie diese Tatsache? Richtig ist, dass die Stadt Göttingen im Juni 2020 für 542 Personen die Kosten der Unterkunft ganz oder anteilig übernommen hat. Natürlich wird erhoben, in welchen Appartements die Antragstellenden wohnen. Die aktuell vom Landkreis zur Verfügung gestellte Software verfügt aber leider nicht über ein entsprechendes Eingabefeld und lässt deshalb eine Auswertung nach Appartementnummern momentan nicht zu. Falscheingaben, zum Beispiel im Feld Hausnummernzusatz, führen zu Problemen bei den Meldungen an die Krankenkassen. Die Software wird deshalb gerade nachgebessert. Angemerkt sei, dass in jedem Einzelfall die mietrechtlichen und sonstigen Voraussetzungen bei Anträgen auf Übernahme der Kosten der Unterkunft sorgfältig geprüft werden. Die CDU geht davon aus, dass hier durch Mietwucher oder Betrug eine Überzahlung von 200000 bis 300000 Euro geleistet wird. Hat die Stadt Kenntnis von aktuellen oder vergangenen Rechtsverstößen von Mietern und Vermietern? Wie kann sie dagegen vorgehen? Die Stadt geht ausnahmslos jedem Verdacht auf Sozialleistungsbetrug nach. Sobald sie Erkenntnisse über Rechtsverstöße erlangt, werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Hierzu wird gegebenenfalls auch der Ermittlungsdienst des Jobcenters eingeschaltet. Das gilt ebenso bei Verdacht auf Mietwucher. Die strafrechtliche Würdigung erfolgt dann durch die Staatsanwaltschaft. Aktuell sind keine Unregelmäßigkeiten oder Rechtsverstöße bekannt. Die Stadt Göttingen vermittelt nach eigenem Bekunden seit Bekanntwerden von Einzelfällen nicht mehr in die einschlägig bekannten Immobilien. Aber lässt sich dadurch verhindern, dass die betroffene Klientel in besagten Adressen unterkommt? Ließe sich hier steuernd eingreifen? Es gab schon vor meiner Zeit ein Vermittlungsverbot in die genannten Immobilien. Dieses ist leider in Einzelfällen missachtet worden. Deshalb wurde das Verbot nach den Fällen im Juni nochmals schriftlich erneuert und allen Mitarbeiter, die in der Stadtverwaltung für die Vermittlung von Wohnraum zuständig sind, verdeutlicht. Die Mitarbeiter sind auch gehalten, Klienten, die in Eigeninitiative in den Gebäudekomplexen eine Wohnung anmieten wollen, davon dringend abzuraten. Fakt aber ist: Wenn Leistungsberechtigte dort trotz Abratens durch die Stadt einziehen wollen – vielleicht auch, weil sie sonst keine andere Wohnung finden – können wir sie nicht daran hindern. Leistungsberechtigte haben einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft. Abhilfe kann nur mehr bezahlbarer Wohnraum schaffen, damit niemand auf Wohnungen mit prekären Wohnverhältnissen zurückgreifen muss. Das würde die Eigentümer auch unter Druck setzen, ausstehende Sanierungen in Angriff zu nehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Stadt Göttingen für Neubau eine Quote für öffentlich geförderten Wohnraum verbindlich vorschreibt, eine kommunale Förderung zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums aufgelegt hat und städtische Grundstücke vorrangig an die Städtische Wohnungsbaugesellschaft sowie die beiden Genossenschaften vergibt. Perspektivisch sollte über eine Stärkung der eigenen Wohnungsbaugesellschaft nachgedacht werden. Im Übrigen hoffe ich darauf, dass die Landesregierung möglichst schnell das Wohnraumschutzgesetz verabschiedet. Darin soll erstmals – als Schutz vor Überbelegung – eine Mindestquadratmeterzahl festgelegt werden, die jeder Person zusteht. Offen ist meines Wissens noch, was passiert, wenn Vermieter diese Mindestquadratmeterzahl durch Vermietung an große Familien unterschreiten. Wir brauchen konkrete Instrumente. Die Corona-Krise hat die Zustände in den genannten Adressen stärker in das öffentliche Interesse gerückt, die Politik scheint sich dem Thema annehmen zu wollen. Frage nach Ihrer persönlichen Einschätzung: Was muss auch mit Blick auf die Quartiersarbeit passieren, damit die Bewohner am Ende wirklich profitieren? Es gibt nicht die eine Maßnahme als Allheilmittel. Nötig ist ein Mix aus aufeinander abgestimmten Ansätzen: Zunächst stärken wir die Bewohner durch Beratungs-, Hilfs- und Unterstützungsangebote, bei Bedarf Sprachkurse, Bildungs- und Qualifizierungsangebote, um ihnen so die Grundlage zur Anmietung besserer Wohnungen zu schaffen. Dazu gehört übrigens auch, ausreichend Kita-Plätze zur Verfügung zu stellen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern und Kindern von Anfang an den Zugang zu frühkindlicher Bildung als Basis für eine erfolgreiche Bildungsbiografie zu ermöglichen. Daneben fördern wir Stadtteil- und Quartierszentren als Orte der Begegnung. Wir wollen, dass alle Göttinger Anlaufstellen haben, in denen sie sich vernetzen und austauschen können. So entstehen Kontakte, Nachbarschaftshilfe und Unterstützungszirkel. Schließlich versuchen wir, den Haupteigentümer von einer baulichen Verbesserung der Wohnsituation und des Wohnumfeldes zu überzeugen. Aktuell gibt es im Gebäudekomplex nur 1- und 2-Zimmerappartements. Hilfreich wäre beispielsweise eine breitere Streuung der Wohnungsgrößen, die durch Zusammenlegung von Appartements geschaffen werden könnte. Das würde sicher zu einer größeren Heterogenität der Mieterstruktur führen. Wünschenswert wären auch Zugangsbeschränkungen für die Hausflure, konsequenteres Vorgehen gegen Vandalismus und Müllansammlungen auf dem Gelände und nicht zuletzt Maßnahmen, die den Außenbereich attraktiver machen. Angemerkt werden muss, dass dadurch keine höheren Mieten erzielt werden können, denn das Mietniveau ist in den Gebäudekomplexen schon jetzt am oberen Limit. Das ist vermutlich der Grund, warum die bisherigen Eigentümer wenig Interesse verspürt haben, die Objekte in einen zeitgemäßen Zustand zu versetzen. Lesen Sie auch: Corona: Erneut Infektionen im Göttinger Wohnkomplex an der Groner Landstraße Göttingen: Groner Landstraße 9: Rats-Fraktionen planen gemeinsame Hilfe Göttingen: Polizeieinsatz an Groner Landstraße sorgt für Aufsehen und Spekulationen Göttingen: Stadt plant Beratungs-Container für Groner Landstraße 9 Stadt Göttingen vermittelt mehr Menschen in die Groner Landstraße 9 a Hilfe für Groner Landstraße 9 – GT - Göttinger Tageblatt Von Markus Scharf