Catcalls of Göttingen kreiden Belästigung in der Innenstadt an

„,Deine Jacke ist echt nice’ – so klingt ein Kompliment. Anders verhält es sich mit dem sich anschließenden Kommentar. ,Ich frage mich, was du unter der Jacke trägst’“, sagt Kiara (die ihren Nachnamen nicht angibt, weil sie anonym bleiben möchte). Alltägliche sexuelle Belästigungen stören die junge Frau. Deswegen hat sie sich dafür entschieden, dagegen vorzugehen: Gemeinsam mit sieben anderen Personen macht sie Belästigung sichtbar, auf den Straßen und in sozialen Netzwerken. Auf den Fußwegen Göttingens malt die Gruppe „Catcalls of Göttingen“ Kreide-Graffitis. Sprüche wie „Ja B*tch, wir haben es kapiert, du siehst super toll aus“, schreiben sie auf die Fußwege. Die Hashtags #stoppt Belästigung und #ankreiden sind oberhalb des Verweises zum Instagram-Account catcallsofgoe beigefügt. Rund 1200 Menschen folgen dem Account, auf dem die Sprüche dauerhaft zu sehen sind – und nicht nur solange, bis Regen und Fußstapfen die Kreide verwischen. Meist junge Frauen berichten von Belästigungserfahrungen: Bei den angekreideten Zitaten handelt es sich um übergriffige Kommentare und Handlungen, meist von Männern gegenüber Frauen. Der Account „catcallsofgoe“ bekommt persönliche Erlebnisse per Direktnachricht zugeschickt. „Mehr als 88 Göttinger haben uns bereits kontaktiert, etwa 53 Geschichten haben wir anonym veröffentlicht“, sagt Lisa. 85 Prozent dieser Menschen seien weiblich und 60 Prozent zwischen 18 und 24 Jahren alt, zwei Drittel zwischen 24 und 31 Jahren. Eine Geschichte ist Aktivistin Rebecca besonders in Erinnerung geblieben: Eine junge Frau wurde innerhalb von zehn Minuten mehrfach belästigt – von unterschiedlichen Männern. Nachts lief sie an der sogenannten Dönermeile entlang, wo ihr Männer nachpfiffen. Danach riefen ihr zwei Männer auf Höhe der Nautibar „Ey, du Nutte!“ zu. Anschließend verfolgte ein weiterer Mann die junge Frau – bis in das Treppenhaus ihres Freundes. „Glücklicherweise hatte dieser seine Haustür offen gelassen, sodass die Frau schnell in dessen Wohnung flüchten konnte“, erzählt Rebecca. Andere Nutzer und Nutzerinnen sehen die den Account als Möglichkeit, eine Ansprechperson zu haben. „Oft verweisen wir weiter auf Hilfsangebote, um die belästigten Personen zu unterstützen“, ergänzt Rebecca. Teil einer weltweiten Bewegung: Den Instagram-Account bestücken sieben Frauen zwischen 19 und 24 und ein 22-jähriger Mann: Sebastian hat selbst noch keine sexuellen Belästigung erfahren. „Aber in der Schulzeit habe ich Mobbing erlebt – diese Erfahrung und die Erziehung meiner Eltern machten mich zu einem empathischen Menschen“, sagt er. Lesen Sie auch: Corona in Göttingen: Medizinstudierende helfen an der UMG Trotz Corona im Ausland: Göttinger Student Jakob Kerstan über seine Zeit in Benin Mitglied Betty startete den Account im Februar 2020 alleine, nachdem sie sich von der weltweiten Chalk-Back-Bewegung inspirieren ließ – ähnliche Accounts gibt es in 150 weiteren Städten, in 50 Ländern, auf sechs Kontinenten. „Ich war das zweite Mitglied – Betty hatte in Instagram-Storys um Unterstützung gebeten und ich kannte bereits catcallsofhannover und catcallsofhildesheim. Ich war überzeugt von der Idee, auf friedliche und legale Art und Weise auf alltägliche Belästigungen aufmerksam zu machen.“ Zudem wollte sie aktiv werden, weil verbale Belästigung in Deutschland nicht strafbar ist. Sexuelle Belästigungen ohne körperliche Berührung sind heute nur strafbar, wenn sie eine Beleidigung darstellen. Nicht zuletzt deswegen ist es der Gruppe „Catcalls of Göttingen“ wichtig, die Belästigungen mit Kreide sichtbar zu machen. Aber wo hört ein Kompliment oder Flirt auf und wo fängt eine Belästigung an? „Bei einem unangemessenen Kommentar fühlt man sich nicht wohl und man wird stutzig“, erklärt Kiara. Rebecca ist auf eine Definition von der Journalistin Sara Hassan gestoßen, über den „Mythos Grauzone“, die sie als treffend empfindet: Die Publizistin beschreibt eine Situation am Arbeitsplatz, in der der Vorgesetzte ein Kompliment zu dem Outfit einer Mitarbeiterin macht. „Ist das nicht eine klassische Grauzone?“, fragt die Zeitung „taz“. Hassan meint: „Diese Grauzone löst sich auf, wenn man guckt, wie die Adressierte sich aus dieser Situation befreien kann. Kann eine Angestellte zu ihrem Chef sagen, dass sie nicht möchte, dass ihr Aussehen kommentiert wird, ohne negative Konsequenzen zu spüren? Das ist nicht nur abhängig vom Chef, sondern auch vom Umfeld.“ Reaktionen von Zuschauenden: Mitglied Mimi war am Wochenende zum ersten Mal ankreiden. Während sie den Catcall niederschrieb, gesellten sich nacheinander junge Männer zu ihr. „Die Männer fanden die Aktion cool und kannten bereits unseren Instagram-Account“, sagt sie. Rebecca hat jedoch während des Ankreidens neben vielen positiven Rückmeldungen auch schon Belästigungen erfahren. „Einmal hat ein Mann in meine Richtung gespuckt – das fand’ ich heftig“, sagt sie. Auf Instagram fielen die Reaktionen bis jetzt nur positiv aus – „zum Glück haben wir noch keine Hasskommentare erhalten, wie es bei anderen Accounts schon der Fall war.“ Sie erreichen die Autorin per E-Mail an lokales@goettinger-tageblatt.de Von Anja Semonjek