Demonstranten fordern in Göttingen: „Evakuiert alle Lager“

Es gibt Menschen, die behaupten, Demonstrationen gehörten zum normalen Göttinger Alltag dazu. Wenn das stimmt, ist Göttingen an diesem Sonnabend einfach wieder ein Stück weiter zur Normalität zurückgekehrt. Denn gleich mehrere Gruppierungen hatten ihren Aufenthalt im Bereich der Göttinger Innenstadt angemeldet – allerdings mit unterschiedlichen thematischen Ausrichtungen. So versammelten sich bereits am Vormittag auf dem Wilhelmsplatz zunächst rund 30 Demonstranten, die zur Solidarität mit Geflüchteten während der Corona-Krise aufriefen. Die Seebrücke Göttingen und der Verein Peloton waren einem bundesweiten Aufruf unter dem Motto #EvakuiertDieGriechischenLager gefolgt. Inhumane Zustände: „Wir setzen ein Zeichen für die Evakuierung der geflüchteten Menschen in Griechenland“, hieß es in Wortbeiträgen. „Dort leben 40 000 Menschen auf engstem Raum, somit ist Abstand halten keine Option. Für 1500 Menschen gibt es einen Wasserhahn, regelmäßiges Händewaschen ist also unmöglich. Sollte dort das Coronavirus ausbrechen, dann wird aus einem Camp, in dem Menschen unter inhumanen Bedingungen leben ein Massengrab.“ Man fordere daher, die Menschen an sichere Orte zu bringen. Das sei schon vor Corona ein zentrales Anliegen gewesen, jetzt aber sei es eine nicht aufschiebbare Pflicht, erklärte eine Sprecherin der Basisdemokratischen Linken. Auch diese Gruppierung hatte ihre Anhänger an diesem Tag mobilisiert. Deutschland sei in der Pflicht, hieß es weiter. Die bisher 47 aufgenommenen Jugendlichen seien nicht mehr als der Versuch, das gesellschaftliche Gewissen reinzuwaschen, kritisierte Jan Behrends, Mitglied der Seebrücke. Luftballon als Symbol: Als äußeres Zeichen der Solidarität habe man bewusst eine Aktion ausgewählt, die kontaktlos funktioniere, so Behrends weiter. Man verteilte gelbe Luftballons, die mit einer Botschaft versehen unter einem großen Netz gesammelt wurden. Dieser überdimensionale Ballonstrauß zog dann pünktlich um 15.30 Uhr mit einer mittlerweile auf rund 150 Personen angewachsenen Menschengruppe in Richtung Obere-Masch-Straße, wo die Demonstration enden sollte. Weder die mit der Polizei abgesprochene Route, noch der Zeitplan schienen zufällig gewählt: Denn so kam der jetzt laut skandierende Tross auf der Weender Straße zumindest in Hörweite der Göttinger Corona-Kritiker, die sich mittlerweile regelmäßig am Gänseliesel treffen. Deren Zahl hatte sich gegenüber der Vorwoche deutlich reduziert. Auch suchten sie nicht mehr die inhaltliche Auseinandersetzung, sondern verlegten sich mehrheitlich auf öffentliches Schweigen und Meditieren. Egoismus-Vorwurf: Das Reden überließen sie der durch eine Polizeikette abgeschottete Gegenseite: „Wir grenzen uns eindeutig vom Egoismus der Corona-Leugner ab“, so ein Sprecher der Flüchtlingsunterstützer. Deren Verhalten auch während der Demonstrationen sei nicht emanzipatorisch oder freiheitlich, sondern rücksichtslos, unsolidarisch und oft sogar menschenfeindlich. Eine direkte Antwort auf diese Vorwürfe blieb aus. Wie schon in der Vorwochen verlief das Aufeinandertreffen friedlich. Nach bekannter Choreografie zogen sich die Gegendemonstranten nach dreifacher Aufforderung der Polizei zurück – begleitet vom Applaus der Meditierenden und untermalt von der immer gleichen Geräuschkulisse aus den mitgebrachten Lautsprechern. Selbst einige der Schaulustigen, die die Szenerie verfolgten, schienen gegenüber den Vorwochen unverändert.Für Außenstehende, die an diesem Sonnabend möglicherweise zum Shoppen oder Flanieren nach Göttingen gekommen waren, musste das Erlebte ein wenig befremdlich gewirkt haben. Für alle anderen war es ein ganz normaler Sonnabendnachmittag in Göttingen. Mehrere Hundert Menschen haben nach Angaben der Polizei am Sonnabend in mehreren niedersächsischen Städten für eine humanere Flüchtlingspolitik demonstriert. Nach aktuellen Aussagen des Bundesinnenministeriums wolle Deutschland 350 Personen aufnehmen, sich dabei aber „auf die wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftigen Kinder fokussieren“. Diese würden derzeit von griechischen Behörden in Zusammenarbeit unter anderem mit der Europäischen Kommission und dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR ausgesucht und dann zunächst auf das griechische Festland gebracht. Niedersachsens Innenministerium lehnte zuletzt die Forderung nach einem eigenen Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete ab. Minister Boris Pistorius (SPD) habe aber seinem Bundeskollegen Horst Seehofer (CSU) mitgeteilt, dass Niedersachsen 100 Personen aufnehmen könne. Von Markus Scharf/vsz

Bundesweiter Aktionstag - Seebrücke-Demo in Göttingen: Demonstranten fordern „Evakuiert alle Lager“