Duderstädter Experte: Die Angst erhöht das Risiko vor Stürzen im Alter

Fast jeder ältere Mensch hat es schon einmal erlebt – man gerät in seinem Alltag in Hektik, macht eine „falsche“ Bewegung und schon ist der (Beinahe-)Sturz passiert. Wenn man stürzt und sich eine schwere Prellung oder Schlimmeres zuzieht, kann die Welt, die eben noch in Ordnung war, völlig aus den Fugen geraten. Eine mögliche Ursache für eine erhöhte Sturzneigung ist der im Alter oft zu beobachtende Muskelschwund. Vielen älter werdenden Menschen ist bewusst, dass man im höheren Alter eine zunehmende Gangunsicherheit entwickeln kann. Dies ist zunächst einmal eine (leider) ganz natürliche Entwicklung. Untersuchungen haben gezeigt, dass jeder Dritte über 65-Jährige mindestens einmal im Jahr stürzt, bei den über 80-Jährigen ist es sogar jeder Zweite. Daher gehört zu einer altersmedizinischen Eingangsuntersuchung immer auch die Erfassung der Gangunsicherheit und des Sturzrisikos. Lesen Sie auch: Tipps für altersgerechten Neu- und Umbau Die Ursachen für eine Sturzneigung im Alter sind vielfältig. Eine davon ist ein mit zunehmendem Alter voranschreitender Abbau der Muskulatur. Die Medizin hat dafür auch den passenden Fachbegriff, man spricht von „Sarkopenie“. Diese setzt bereits ab dem 50. Lebensjahr ein, wenn keine besonderen Maßnahmen wie Muskelaufbautraining ergriffen werden. Ab dem 70. Lebensjahr beschleunigt sich dieser Prozess deutlich, und ab dem 80. Lebensjahr ist jeder Zweite davon betroffen. Das Verhältnis zwischen muskelaufbauenden und muskelabbauenden Prozessen im Körper verschiebt sich mit dem Alter immer mehr in Richtung Muskelabbau. Beschleunigt wird dieser Prozess, wenn man sich nicht genügend bewegt und nicht auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung achtet. Wie kann man feststellen, ob man an einem bedeutsamen Muskelschwund leidet? Die exakte Diagnose, obwohl im Alter häufig, ist gar nicht so einfach zu stellen. Einen groben Anhalt bieten qualitativ hochwertige Bioimpedanz-Waagen, die über die Messung des elektrischen Widerstands bei Stromfluss durch die Extremitäten einen Wert ausgeben. Will man einen exakten Wert für die Muskelmasse ermitteln, ist eine aufwendige und eher selten verfügbare Diagnostik erforderlich. Daher behilft man sich in der Medizin oft mit einer Zusammenschau von klinischem Blick, Testung der Handkraft und Messung der Gehgeschwindigkeit. Ist insbesondere letztere erniedrigt (< 1 m / Sekunde), kann die Diagnose nach Ausschluss anderer medizinischer Ursachen auch ohne komplizierte Apparate gestellt werden. Auch die Messung des Waden-Umfangs kann helfen. Der einfache Schritt auf die Körpergewichtswaage hilft leider nicht, weil das Gewicht auch bei Muskelabbau über die Jahre konstant bleiben kann. Was tun, wenn man unter „Sarkopenie“ leidet? Die Kernbotschaft lautet: Auch bis ins hohe Alter kann man Muskulatur aufbauen, zumindest aber ein Voranschreiten des Abbaus verzögern und damit das Sturzrisiko effektiv senken. Dabei hilft zum einen das richtige Maß an körperlicher Belastung, zum anderen die richtige Ernährung. Eine halbe Stunde körperliche Aktivität am Tag ist Gold wert. Das kann – je nach Alter und Vorerkrankungen – Gartenarbeit oder auch der Verzicht auf das Auto bei kleineren Einkäufen bis hin zum Seniorensport im Fitness-Studio sein. Nebenbei wirkt die richtige „Dosis“ an körperlicher Aktivität auch als Demenz-Prophylaxe und gegen depressive Verstimmungen. Bei der Ernährung sollte man darauf achten, ausreichend Proteine aufzunehmen – eine ausgewogene Menge an Fleisch, Fisch, Eiern, Hülsenfrüchten und Nüssen. Lesen Sie auch: Nebenwirkungen bei Krebs Eine weitere Ursache für eine erhöhte Sturzneigung ist im übermäßigen Verschleiß einer anderen funktionellen Einheit des Bewegungsapparats zu sehen: der Gelenke. Der Fachbegriff, den man in diesem Zusammenhang immer wieder liest, lautet „Arthrose“. Die Funktion der großen Gelenke – Hüfte und Knie – sind für die Bewegung besonders wichtig. Ein Verschleiß dieser Gelenke hat dabei zwei negative Effekte: Zum einen wird der natürliche Bewegungsablauf behindert und damit die Stand- und Gangsicherheit, zum anderen sorgt ein bei Arthrose fast immer auftretender Schmerz für ein unnatürliches Bewegungsbild und führt unter Umständen zu einer Fehl- und Überbelastung von weniger betroffenen Gelenken. Es entsteht ein „unrundes“ Gangbild. Lesen Sie auch: Die Vollnarkose ist besser als ihr Ruf Oft befinden sich arthrosegeplagte Menschen in einem Teufelskreis: Zur Vermeidung von Schmerzen und Stürzen bewegen sie sich nur noch so wenig wie unbedingt nötig – und beschleunigen damit ebenjenen Verschleißprozess. Krankengymnastik, Schmerztherapie und als letzte Maßnahme auch der operative Gelenkersatz können dazu beitragen, dass man in Bewegung bleiben kann. Daneben gibt es Verschleißerscheinungen auch im Gleichgewichtsorgan, das sehr viele Informationen aus der Umwelt verarbeiten muss, um uns sicher auf den Beinen zu halten. Die Sehkraft nimmt ab, das Gehör, der Tastsinn – alles Effekte, die die Sturzgefahr generell erhöhen. Wird man älter, dauert auch die Kreislaufregulierung in der Regel länger, um sich an geänderte Bedingungen anzupassen – etwa beim Aufstehen („Orthostase“). Auch ein generell zu niedriger Blutdruck oder ein zu langsam schlagendes Herz können Schwindel und Stürze verursachen. Lesen Sie auch: Hilfe für Menschen mit beginnender Demenz Auch beim im Alter sehr oft auftretenden anfallsartigen Schwindel lohnt es sich, Diagnostik durchzuführen. Das Problem dabei: Schwindel ist oft nur das Symptom einer zugrundeliegenden Erkrankung. Schwindel ist interdisziplinär: die Ursache kann im HNO-, neurologischen, orthopädischen oder kardiologischen Bereich liegen. Und auch psychiatrische Ursachen für Schwindel gibt es. Wie man sieht, gibt es vielfältige Störungen, die ein älter werdender Körper nicht mehr so einfach ausgleichen kann. Der Gang zum Hausarzt kann hier oft Klarheit verschaffen. Durch gezielte Fragen und einige Untersuchungen lässt sich manchmal eine behandlungswürdige Erkrankung feststellen. Auch kennt der behandelnde Arzt eventuell vorliegende sturzfördernde Erkrankungen, die man mit sich herumträgt und kann gegebenenfalls eine Anpassung der Medikation umsetzen. Auch kann er die weitere Diagnostik veranlassen, wie etwa Kreislauf-Untersuchungen (beispielsweise eine Langzeit-EKG-Untersuchung). Aber was kann man tun, wenn keine organische Ursache gefunden wird, die sich durch spezielle Maßnahmen behandeln lässt? Eine ganze Menge! Zuerst einmal muss jeder ältere Mensch seine unmittelbare Umgebung einer kritischen Betrachtung unterziehen. Wird man mit dem Alter gangunsicher, kann eine hohe Teppichkante zur riskanten Stolperfalle werden, oder schlecht sitzendes Schuhwerk, der niedrige Couchtisch, das Küchenregal hoch oben an der Wand, der schlecht beleuchtete Flur … und nicht zu vergessen: die Treppe! Außerdem hilft oft die „Entschleunigung“ des Lebens – Bewegungen langsamer und bewusster durchzuführen, insbesondere beim Aufstehen, um die erwähnte „Orthostase“ zu verhindern. Außerdem kann der Gebrauch der richtigen Hilfsmittel eine bedeutsame Sturzprophylaxe bedeuten. Als wichtiges Beispiel für Hilfsmittel ist der Rollator zu nennen. Hat man sich erst einmal an ihn gewöhnt, kann er – richtig benutzt – den älteren gangunsicheren Menschen vor der gefürchteten Schenkelhalsfraktur bewahren. Insbesondere bei Einkäufen, wenn man die schwere Einkaufstüte darin verstauen kann. Man sieht also, dass der älter werdende Mensch nicht ganz hilflos einer zunehmenden Sturzgefahr ausgeliefert ist. Vor allem muss jeder Betroffene das Problem ernst nehmen und sich eingestehen – dann kann er mit Hilfe des behandelnden Arztes die richtigen Konsequenzen ziehen. Lesen Sie auch Blutkrebspatientin arbeitet heute als Pflegerin Palliativ – nicht nur am Lebensende wichtig St. Martini rüstet Gefäßchirurgie auf Der Autor: Oliver Groß, Chefarzt der Geriatrie im Krankenhaus St. Martini, Duderstadt, Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie Von Oliver Groß