Ein Wintermärchen: Junges Theater Göttingen wagt den Schritt zum Stream

Im Saal des Jungen Theaters Göttingen ist vieles etwas anders als normal, als JT-Schauspieler Jan Reinartz am Mittwochnachmittag den Anfangsmonolog von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ probt. Denn: Reinartz spricht nicht zu einem Publikum im Saal, sondern in eine Kamera. Das JT wagt den Schritt zum Online-Streaming. Doch wie geht ein Theater damit um, plötzlich nicht mehr nur theatralischen, sondern zusätzlich auch filmischen Maßstäben genügen zu müssen? „Alles, was wir hier machen, ist Versuchsanordnung“, sagt JT-Intendant Nico Dietrich. Das Signal, welches das JT an die Menschen in Göttingen und der Region geben wolle: „Wir sind noch da.“ Wie das neue Projekt funktionieren soll, lässt sich bei den Aufnahmen bereits erahnen – hier werden zwei Kunstformen vereint. Eine Inszenierung mit gebotenem Abstand: „Das Theaterstück soll nicht zum Fernsehfilm werden“, betont Dietrich. Dennoch: „Ein Wintermärchen“ einfach in der Totale abzufilmen, sei keine Option. Denn durch die Aufnahme gehe vieles verloren – etwa die Stimmung im Theatersaal. „Wenn die Figuren zum Publikum sprechen, müssen sie im Stream in die Kamera sprechen“, erklärt Dietrich. Das Konzept entwickeln JT-Regisseur Tobias Sosinka und Film-Regisseur Christian Ewald von den Göttinger „Knockwood Films“ auch noch während der Aufnahmen weiter. Das Heinrich-Heine-Stück „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ist eigentlich ein großer Monolog. Es basiert auf einer Reise des Dichters Heine nach Frankreich und zurück nach Deutschland. Im „Wintermärchen“ stellt Heine zwei fundamental verschiedene Ideen gegenüber: Die Vision einer liberalen Gesellschaft und die reaktionären Zustände in den deutschen Staaten des Jahres 1844. Nach Angaben von Regisseur Tobias Sosinka bleibt die Handlung des Stücks in der Inszenierung des Jungen Theaters (JT) im Kern unberührt. Jedoch wurden zusätzlich Passagen aus anderen Texten Heines eingefügt, in denen der Dichter, so Sosinka, „manches einfach klarer auf den Punkt bringt“. In der Inszenierung trifft derjenige, der von seinen Reisen erzählt (Jan Reinartz), eine Frau (Katharina Brehl) wieder, die vor seinem Weggang eine unbekannte Rolle in seinem Leben spielte. „Deutschland. Ein Wintermärchen“ soll als Streaming-Angebot des JT Ende Mai starten und zeitlich begrenzt verfügbar bleiben. Das genaue Datum will das JT noch bekanntgeben. Lesen Sie auch: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ feiert Premiere im Jungen Theater Das „Wintermärchen“ habe in der aktuellen Situation mehrere Vorteile für das JT, sagt Dietrich. Zum einen treten nur zwei Personen im Stück auf. Mehr, erklärt der Intendant, wären angesichts der Abstandsregeln gar nicht möglich – beim lauten Sprechen müssen teils deutlich mehr als zwei Meter Abstand gehalten werden. Außerdem ist das Heinrich-Heine-Stück kostengünstig, da rechtefrei. Es ist nicht die erste kreative Idee des JT: In den vergangenen Wochen gab es unter anderem Auftritte im Autokino – und eine Tour durch die Gärten der Seniorenheime der Region. Theater mit Filmklappe: Dort, wo im Theatersaal eigentlich Zuschauer sitzen würden, sind für die Filmaufnahmen am Mittwoch Podeste für die Kameras aufgebaut. Eine Herausforderung für die Schauspieler: Reinartz und seine Bühnenpartnerin Katharina Brehl müssen ihr Spiel auf die Kameras ausrichten – und auf die Mikrofone an ihrer Kleidung achten. Anderes bleibt gleich: die deutliche Betonung von Namen wie „Kant“ zum Beispiel. „Denk an die Pausen“, erinnert Sosinka Reinartz – denn die sind im Stream nicht nur für die Dramaturgie wichtig, sondern auch, um Kameraschnitte und Szenenwechsel einbauen zu können. Es ist eben alles ein bisschen anders: „Sagt dann auch jemand sowas wie ,Klappe und go’?“, fragt Reinartz – und Regisseur Sosinka imitiert prompt die Filmklappe, bevor die Aufnahme startet. Folgen weitere Inszenierungen? Vier Stunden Zeit hätten Schauspieler und Regisseure für die Aufnahmen, sagt Dietrich – mehr Zeit bleibt nicht. In den kommenden Tagen soll das „Wintermärchen“ geschnitten und aufbereitet werden – Streaming-Premiere für das JT werde in etwa drei Wochen sein, verrät der Intendant. Geld verdiene das Theater mit dem Projekt nicht. Aber: „Wir wollen auch nicht, dass unsere Kunst immer und überall kostenlos abrufbar ist.“ Der Stream soll deshalb nur begrenzt online bleiben – in der Hoffnung, damit möglichst viele Zuschauer zu erreichen. Wie viele es werden, gesteht Dietrich, ist nicht abzuschätzen. Lesen Sie auch: Junges Theater Göttingen startet beim Festival „Privattheatertage“ Weitere Streaming-Projekte, so Dietrich, sind bereits in Vorbereitung. Als nächstes könnten „Fridays. Future“ und „Diese entsetzliche Lücke“ vom JT für das Internet aufbereitet werden. Während der Dreharbeiten am Mittwoch zeigt sich: Die Vereinigung von Theater und Film scheint auch für ein kleines Theater wie das JT möglich. Mehr zum Thema: KiSN: Eine virtuelle Bühne für die Kultur in Südniedersachsen Junges Theater Göttingen: Benefizgala für die Künstler – ohne Show Sie erreichen den Autor per Mail an lokales@goettinger-tageblatt.de. Von Tammo Kohlwes

Neue Wege in der Krise - „Ein Wintermärchen“: Junges Theater Göttingen wagt den Schritt zum Streaming