Erst Liebe, dann Anwalt: Warum Göttinger Ehen zerbrechen und geschieden werden

Rund 450 000 Ehen werden in Deutschland pro Jahr geschlossen, etwa 150 000 geschieden. Einige davon in Göttingen. Das Tageblatt hat die beiden Göttinger Scheidungsanwältinnen – in der Fachsprache Fachanwältinnen für Familienrecht – Anne Hansen und Astrid Risto zum Thema befragt. Sie berichten, was Frauen und was Männer zur Scheidung bewegt, wann Scheidungen Hochsaison haben und warum manch eine Ehe schon nach einer Woche ihr Ende findet. Lesen Sie auch Corona und Heiraten: Erfahrungen der Standesämter im Landkreis Göttingen Corona in Niedersachsen: Land bittet von „Hochzeit abzusehen“ Hochzeit trotz Kontaktsperre: Kerstin und Björn Schöniger sind nun Eheleute Gibt es eine Hochsaison für Scheidungen? Astrid Risto: Dieses Jahr ist es coronabedingt ein wenig anders, aber man kann grundsätzlich sagen: Im Januar geht es los. Vor den Feiertagen im Dezember werden wenig Scheidungen beantragt, da lassen sich Mandanten eher nur beraten. Dabei legen sie aber oft Wert darauf, dass die Sache noch nicht offiziell wird. Sie betonen dann häufig, dass man es ja keinem weitersagen soll. Anne Hansen: Bei bereits begonnenen Scheidungsverfahren sollen vor Weihnachten aber oft Kindschaftssachen geklärt werden. Also Fragen wie „Wer darf mit den Kindern Weihnachten feiern oder darf mein Ex-Partner mit den Kindern verreisen?“ Unterschiedliche Gründe bei Frauen und Männern: Beobachten Sie Unterschiede bei Männern und Frauen in Bezug auf Scheidungen? Wir begleiten beide rund 200 Mandanten pro Jahr bei ihren familienrechtlichen Fragestellungen. Frau Risto eher ein paar mehr, ich aufgrund meiner überwiegenden Tätigkeit als Notarin ein paar weniger. Der Anteil von Männern und Frauen ist in etwa gleich. Ich habe den Eindruck, dass Frauen – unabhängig von Weihnachten – oft viel Rücksicht auf äußere Umstände nehmen. Sie warten beispielsweise darauf, dass der Sohn sein Abitur in der Tasche hat und kommen dann zu mir. Kommen Frauen aus anderen Gründen zu Ihnen als Männer? Hansen: Ja. Frauen kommen meist, weil sie unglücklich sind in der Ehe. Ihre Haltung ist: Lieber ohne Beziehung als in einer unglücklichen Beziehung. Männer schildern oft noch einen äußeren Anstoß; sie wollen die Scheidung meist erst, wenn sie eine neue Partnerin gefunden haben. Risto: Der bekannte Familienrechtler Dr. Jürgen Soyka, der lange Vorsitzender am Oberlandesgericht Düsseldorf war und viele Seminarveranstaltungen zum Familienrecht durchgeführt hat, hat dazu die Formulierung geprägt: „Männer lassen die Wärmekette nicht abreißen.“ Gibt es Ausnahmen? Hansen: Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Unter anderem, wenn die Frau schwer psychisch erkrankt ist oder wenn Männer ihre Partnerin mehr oder weniger direkt mit einem anderen Mann erwischen. Alkohol und perfektionistische Ansprüche als belastende Faktoren: Was lässt Ehen zerbrechen? Gibt es Unterschiede bezüglich sozialer Ebenen? Hansen: Wir haben Erfahrungen mit allen gesellschaftlichen Schichten. Die Erfahrungen sind immer die gleichen. Wer sich scheiden lassen will, empfindet oft zu geringe Wertschätzung durch den Partner oder nimmt Anstoß an dessen Alkoholkonsum. Oft höre ich von Mandanten: „Mein Partner trinkt jeden Tag.“ Risto: Auch Lebensphasen spielen eine Rolle. Ehen zerbrechen, wenn die Belastung zu groß wird: Beide Ehepartner arbeiten, sie haben zwei oder drei Kinder, die kommen mit zwei bis drei Jahren in ein schwieriges Alter. Hansen: Sie wollen gute Eltern sein, haben hohe Ansprüche an sich und die Erziehung mit Musikunterricht, Frühförderung, abends ein leckeres Bio-Vollwertmenü – sie wollen alles perfekt machen. Ich glaube, dass sich viele Paare daran aufreiben. Und wenn die Kinder aus dem Haus sind? Risto: Auch das ist ein kritischer Punkt. Viele Eheleute merken dann, dass die Kinder ihr einziges Thema geworden sind. Dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. Sie sind dann häufig Mitte oder Ende 40, einem typischen Alter für die sogenannte Midlife-Crisis, und orientieren sich neu – nicht selten auch partnerschaftlich. Scheidung: Ohne Anwalt geht es nicht: Was ist ihre Rolle als Anwältin bei einer Scheidung? Hansen: Grundsätzlich geht eine Scheidung nicht ohne gerichtliches Verfahren. Den Antrag kann man wiederum nicht ohne Anwalt stellen. Brauchen beide Seiten einen Anwalt? Hansen: Nein. Es kommt durchaus vor, dass sich Eheleute besprechen, wer den Anwalt nimmt und sich dann die Kosten intern teilen. Eine Scheidung kann so eine kurze, unaufgeregte Sache sein. Im Durchschnitt dauert eine Scheidung und ihre anwaltliche Begleitung bei uns aber wohl rund sieben bis neun Monate. Anne Hansen ist 44 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder im Alter von sieben bis 15 Jahren. Sie ist Anwältin und Notarin sowie Fachanwältin für Familienrecht. Ein weiterer Tätigkeitsschwerpunkt von ihr liegt im Erbrecht und der Vermögensnachfolge. Zum Thema Heiraten sagt sie: „Ich finde, Heiraten ist ein schönes Zeichen der dauerhaften Verbundenheit.“ Eheverträge empfiehlt sie, weil diese nicht einfach unromantisch sind, sondern „die Dinge regeln, falls es doch nicht klappt.“ Sie meint: „Viel Stress und Streit lässt sich so vermeiden.“ Astrid Risto ist 50 Jahre alt, nicht verheiratet und erzieht ihr siebenjähriges Kind allein. Auch Unverheirateten empfiehlt sie, relevante Dinge wie Vollmachten oder Besuchsrechte zu regeln, was in einem Vertrag für nichteheliche Lebensgemeinschaften möglich ist. Risto ist ebenfalls langjährige Fachanwältin für Familienrecht und zusätzlich auch noch im Baurecht tätig. Sie schätzt dabei den Wechsel von teils sehr emotionalen Themen zu eher sachlichen: Zwar hülfen ihr bei Scheidungsberatungen ihre eigenen Erfahrungen dabei, sich einzufühlen, im Kontrast dazu sei die einfache Frage „Liegt ein Baumangel vor oder nicht?“ aber erfrischend klar und sachlich. Hansen und Risto arbeiten in einer Bürogemeinschaft in der Keplerstraße 5 in Göttingen. Die Kanzlei Hansen erreicht man unter der Telefonnummer 05 51/ 37 06 00 00, die Kanzlei Risto unter der Nummer 05 51 /8 20 75 75. Rund um die Themen Trennung, Scheidung, Kindschaftssachen sind auch Stadt und Landkreis Göttingen mit ihren Jugendämtern und Erziehungsberatungsstellen wichtige Ansprechpartner. Bei Konflikten über Kinderunterhalt sowie Sorgerecht und Umgang mit gemeinsamen Kindern sind Jugendämter zur Beratung verpflichtet. Passende Anwälte findet man außer über das Internet auch über die für den Raum Göttingen zuständige Rechtsanwaltskammer Braunschweig. Warum Scheidungen mitunter viele Jahre dauern: Weil es statt kurz und schmerzlos aber auch lang und schmutzig gibt? Hansen: Ja, es gibt auch Scheidungen, die uns drei oder vier Jahre beschäftigen. Es hängt immer davon ab, wie sehr die Parteien um die Dinge wie Unterhalt streiten, wie bereitwillig Auskünfte zum Einkommen gegeben werden, wie einfach der Zugewinnausgleich geregelt werden kann – also in etwa: Wer hat was für den anderen geleistet, was für Vermögen wurde aufgebaut und was für Ansprüche entstehen dadurch? Das kann beispielsweise bei eigenen Unternehmen oder Immobilienvermögen durch die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten sehr komplex werden. Risto: Wir haben es außerdem immer wieder auch mit Kollegen, also anderen Anwälten, zu tun, die Öl ins Feuer gießen, anstatt eine einvernehmliche Lösung zu suchen. Weil sie so für ihre Mandanten das Maximum herausholen wollen, was nicht nur bei Betrachtung der dabei entstehenden Anwaltskosten nicht unbedingt die beste Lösung für den Mandanten sein muss. Und das wollen Sie nicht? Hansen: Meine Haltung – und meine Kollegin sieht das ähnlich – ist, dass sich Eheleute bei einer Scheidung nicht zerfleischen, sondern sich auch danach noch in die Augen sehen können sollten. Insbesondere, wenn Kinder im Spiel sind. Die sollten bei ihrer eigenen Hochzeit meiner Meinung nach nicht überlegen müssen, ob sie Vater oder Mutter einladen, sondern beide einladen können. „Denken Sie an die Zukunft“, rate ich meinen Mandanten daher gerne – und nehme mir schon im Erstgespräch viel Zeit, um die Situation zu verstehen und zu sortieren. Scheidungs-Trends: Sehen Sie Scheidungs-Trends? Hansen: Ich hatte in der letzten Zeit mit mehreren scheiternden Ehen zu tun, in denen die Schwiegermutter aus Sicht der Ehefrau zu großen Einfluss auf ihren Mann hatte. Eine Mandantin sagte zu mir, dass sie das Gefühl hatte, dass während der gesamten Ehe die Schwiegermutter auf dem Beifahrersitz saß – und sie auf der Rückbank. Die Schwiegermutter war also sehr präsent und hatte großen Einfluss auf die Entscheidungen des Mannes. Dabei handelte es sich jedoch in allen Fällen um Unternehmerfamilien, was dieses Verhalten erklären mag. Risto: Ich sehe noch eine grundsätzlichere Entwicklung: Frauen verdienen heute besser, nicht selten auch besser als ihr Mann. Die Bereitschaft, Dinge zu ertragen, sinkt dadurch bei ihnen. Sie sagen sich: „Dann gehe ich halt.“ Das wirkt sich auch in Bezug auf die typische, stressbedingte Lagerbildung und damit verbundenen Druckmittel aus. Während man lange annehmen konnte, dass Männer in der Trennungsphase Druck über Geld – „Du bekommst nichts!“ – ausüben und Frauen über Kinder – „Du bekommst sie nicht und zu deinen Eltern dürfen sie auch nicht mehr!“ –, ist das heute nicht mehr so. Scheidungen im hohen Alter und nach einer Woche Ehe: Wie lange dauerte die kürzeste Ehe, die sie getrennt haben? Risto: Bei mir ist der „Rekord“ eine Woche. Die Mandantin sagte sinngemäß: Der lag jetzt eine Woche nur auf der Couch – so hab ich mir das nicht vorgestellt. Außerdem sind kurze Ehen nach langer vorhergehender Partnerschaft wie einer acht Jahre dauernden Beziehung durchaus eine Art „Klassiker“. Aber es gibt auch Paare, die sich mit 70 oder 80 Jahren scheiden lassen. Während sich manche in diesem Alter sagen, dass eine Scheidung nicht mehr lohne und sie die paar Jahre auch noch aushalten, haben andere eine Motivation, die beispielsweise erbrechtlich begründet sein kann. Hansen: Im Grunde gibt es nichts, was es nicht gibt. Es gibt auch junge Mütter, die mit dem ersten Baby, gerade neu geboren, aus dem Krankenhaus kommen und von ihrem Mann gesagt bekommen, dass er es sich anderes überlegt habe und die Beziehung nicht mehr wolle. Oder der frischgebackene Vater bekommt gesagt, dass das Kind doch nicht von ihm ist. Für viele klingt das wohl wie aus einer anderen Welt, aber uns überrascht fast nichts mehr. Von Steffen Kahl