Frauentag in Göttingen: Corona-Krise treibt die Ungleichheit auf die Spitze

Wie beeinflusst die Corona-Krise die Rolle der Frau in der Gesellschaft? Diese Frage stand im Fokus eines Online-Vortrags zum internationalen Frauentag. Politikwissenschaftlerin Regina Frey beleuchtete in ihrem Beitrag „Krise – Geschlecht – Corona: Ein geschlechterkritischer Blick auf ein Jahr Pandemie(-bewältigung)“ die Situation der Frauen in der Pflege, im Home-Office und der unbezahlten Arbeit, zeigte aber auch Lösungsmöglichkeiten auf. „Vor einem Jahr war das Ausmaß noch nicht klar, wie sehr uns Corona beschäftigen würde“, leitete Frey den vom Gleichstellungsbüro der Stadt Göttingen organisierten Vortrag ein. Mittlerweile gebe es jedoch viele Studien, die vor allem eines zeigten: „Die Corona-Krise treibt die Probleme der Ungleichheit auf die Spitze.“ Lesen Sie auch Göttingen: Rote Schuhe am Gänseliesel als Symbol gegen Gewalt an Frauen Internationaler Frauentag in Hannover: Feministinnen demonstrieren bei Sternmarsch Denn eine Schieflage habe es schon vor dem Beginn der Pandemie gegeben, erläuterte Frey. So lag der Gender Pay Gap, also die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, im Jahr 2019 bei 20 Prozent, der Gender Care Gap (unbezahlte Sorgearbeit) im Jahr 2013 gar bei 52 Prozent, zitierte die Wissenschaftlerin aus dem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Effekt wird durch Corona verstärkt: Dieser Effekt habe sich durch die Corona-Krise sogar verstärkt: Denn der Frauenanteil in Berufen, die als systemrelevant eingestuft wurden – wie Pflege und Einzelhandel – sei besonders hoch. In der Pflege arbeiteten zu etwa 75 Prozent Frauen, meist ohne Tarifvertrag. „Die Tarifverhandlungen sind unglaublich zäh“, so Frey. Die Menschen, die ohnehin schon eine hohe Arbeitsbelastung hätten, bekämen durch die Corona-Pandemie noch mehr zu tun. Außerdem hätten sie ein höheres Ansteckungsrisiko. „Dort ist eine besondere Verletzbarkeit vorhanden“, meinte Frey. Hat Gewalt gegen Frauen während der Corona-Pandemie zugenommen? „Wir nehmen es an, können es aber nicht mit Zahlen untermauern“, sagt Regina Frey. Zwar habe das Beratungstelefon der Bundesregierung im April 2020 knapp 20 Prozent mehr Anrufe registriert als im Vorjahreszeitraum, dennoch sei es schwer, valide Daten zu bekommen. Eine repräsentative Studie der Technischen Universität München habe aber gezeigt, dass sich die Situation für Frauen in gewalttätigen Beziehungen verschärft habe. Die Befragung wurde im April und Mai unter 3800 Frauen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren durchgeführt. Sie ergab, dass 3,1 Prozent der Frauen in Deutschland in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer körperlicher Gewalt wurden. 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. Waren die Frauen in Quarantäne oder hatten die Familien finanzielle Sorgen, lagen diese Zahlen sogar deutlich höher. Weitere verlässliche Studien gebe es bislang noch keine, so Frey. Hinzu komme, dass besonders bei häuslicher Gewalt die Dunkelziffer sehr hoch sei. Viele würden keine Anzeige erstatten, auch deshalb seien die Zahlen „sehr unzuverlässig“. Frauen im Home-Office seien zudem stärker gefordert, ebenso gebe es weniger Frauen im Home-Office als Männer, belege eine Studie des DGB. „Wenn die Kinderbetreuung wegfällt, wird das Home-Office zu einer größeren Belastung“, sagte die Wissenschaftlerin. Es habe sich zwar gezeigt, dass Männer während der Pandemie mehr Care-Arbeit wie Kinderbetreuung leisteten, Frauen seien aber noch stärker belastet. Diese Ambivalenz spiegele sich in Zahlen wider: „Der Anteil der Familien, in denen die Kinderbetreuung nur durch die Frau übernommen wird, hat sich von acht auf 16 Prozent verdoppelt. Paare, die vor der Pandemie die Betreuung gemeinsam übernommen haben, bleiben offenbar dabei – dort, wo die Mutter allein dafür sorgt, verschärft sich die ungleiche Verteilung“, belege eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Zudem würden mehr als 75 Prozent aller Pflegebedürftigen hierzulande zu Hause versorgt – und zwei Drittel der Hauptpflegepersonen seien weiblich. Corona-Krise ist nicht geschlechtsneutral: Doch welche Lösungen gibt es? „Es ist nicht möglich, die Corona-Krise geschlechtsneutral zu denken“, meinte Frey. Die getroffenen Maßnahmen müssten Disparitäten im Auge behalten. Deshalb fordere der Frauenrat etwa Corona-Elterngeld oder öffentliche Zuwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen. Die Ausgabe solcher Gutscheine, wie sie in Belgien praktiziert werde, sei möglich. Den Pflegesektor strukturell aufzuwerten, sei ein „wichtiger Baustein für eine höhere Krisenresilienz“, sagte Frey. Dieser Sektor müsse besser bezahlt und geschätzt werden. Eine Investition in den Care-Sektor würde zudem starke Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Applaus sei zwar gut und schön – aber lediglich eine symbolische Anerkennung in der Krise. Faktische Lösungen müssten her – „die Vorschläge liegen auf dem Tisch“. Von Tobias Christ