Gastro, Kuriere, Handel, Reinigung: Wie die Göttinger Branchen unter Corona leiden

Die klassischen Veranstaltungen am Tag der Arbeit fallen in diesem Jahr coronabedingt aus – die Kundgebungen auf den Marktplätzen Südniedersachsens sind gestrichen und ins weltweite Netz umgezogen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ruft dennoch am 1. Mai unter dem Motto „Solidarisch ist man nicht alleine!“ zu Aktionen der Solidarität auf. Die Geschäftsführerin der DGB-Region, Agnieszka Zimowska, will am 1. Mai ein „beeindruckendes Signal solidarischen Zusammenhaltes” setzen: „Ob es um den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union in der Corona-Krise, eine bessere Bezahlung in unverzichtbaren Berufen oder eine bessere Absicherung der Beschäftigten durch Kurzarbeitergeld geht, die Gewerkschaften wollen zeigen, was Solidarität konkret bedeutet.” Die Botschaft laute: „Solidarität lohnt sich. Denn solidarisch ist man nicht alleine“. Sebastian Wertmüller, Geschäftsführer Verdi-Bezirk Region-Süd-Ost-Niedersachsen, nennt als dringendste Probleme derzeit, dass vor allem die Mitarbeiter in den Niedriglohnjobs „viel zu wenig Kurzarbeitergeld“ erhalten. Die Folge sei, dass die Menschen Aufstockung beim Jobcenter beantragen müssen. Zudem gebe es zu wenig Schutzausrüstungen beispielsweise für Beschäftigte in der Pflege und im Handel. Wertmüller rechnet in den nächsten Monaten zudem mit einer steigenden Zahl von Arbeitslosen, verursacht beispielsweise durch Insolvenzen im stationären Handel. Die Pandemie-Krise stellt derzeit den Arbeitsmarkt in Südniedersachsen also vor enorme Herausforderungen. Welche Branchen kämpfen mit welchen Problemen? Einige Beispiele: Die Gastronomie: „Im Gastgewerbe und im Tourismusbereich wurde die Arbeit seit Mitte März quasi per Vollbremsung eingestellt, ohne dass etwas Zeit für Vorbereitungen blieb. Das bedeutet für die Betriebe seitdem null Umsatz“, sagt Katja Derer, Geschäftsführerin der Gewerkschaft NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten) Region Süd-Ost-Niedersachsen-Harz. Außerdem werden größere Veranstaltungen bis Herbst wohl nicht stattfinden können. Das bedeute, dass der Umsatz nicht nur kurz- sondern mittelfristige einbreche. Viele Arbeitgeber hätten ihre Beschäftigten in Kurzarbeit geschickt. „Mit schlappen 950 Euro können gut ausgebildete Köche oder Servicekräfte nicht lange überleben.“ , so Derer weiter. Nach Druck durch die Gewerkschaften sei das Kurzarbeitergeld befristet erhöht worden, aber dies greife erst ab dem vierten Monat der Kurzarbeit. „Aus Gewerkschaftssicht wurde hier keine spürbare Verbesserung für die Menschen erreicht.“ Im Gastgewerbe und im Tourismusbereich stünden sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer unter „extremen Druck, ihre Existenzen zu sichern“. Laut Derer seien alle Berufsgruppen der Hotel- und Gastrobranche betroffen: Servicekräfte, Küchenmitarbeiter, Reinigungspersonal, Hausmeister, Techniker. Zudem drohe das neue Ausbildungsjahr vorbeizuziehen, was den Fachkräftemangel verschärfe. Derer: „Im Landkreis Göttingen sind rund 7600 Menschen im Gastgewerbe beschäftigt, im Harz weitere 5600 Menschen. Wenn bis zu einem Drittel der Betriebe in Insolvenz gehen und eventuell schließen müssten, wie es der Deutschen Hotel- und Gaststättenverband Dehoga befürchtet, so rechnen wir mit mehreren Hundert Arbeitssuchenden im Großraum Göttingen.“ Die NGG fordert, „umgehend länderspezifische Konzepte“ zu erarbeiten und dass in jedem Betrieb vor Wiedereröffnung eine Gefährdungsanalyse zu erstellen ist. Sollte das Ganze dann nicht greifen, dann müsse für das Gastgewerbe und den Tourismus ein gesonderter „Rettungsschirm“ gebaut werden. Die Kurierdienste: Die Kurierdienste arbeiten seit Beginn des Shutdowns im Einzelhandel unter Hochdruck. „Dort sprechen wir ja bereits von einer Art zweitem Weihnachtsgeschäft”, sagt Sven Paschke, zuständig für Kurier- und Expressdienste in der Gewerkschaft Verdi. In der Corona-Krise boome das Online-Geschäft. Vorstöße der Unternehmen, deshalb auch sonntags auszuliefern, lehne die Gewerkschaft aber strikt ab. Wie Paschke erklärt, so stehen vor allem die Fahrer derzeit unter massiven Druck, die nicht mit Tarifverträgen arbeiten. „DHL und UPS haben für ihre Fahrer Tarifverträge”, sagt er. Anders sehe das bei Unternehmen wie DPD und GLS aus. „Diese Dienste arbeiten auch mit Sub- und Sub-Sub-Unternehmern zusammen”, so Paschke. Die Fahrer, die oft aus Osteuropa kommen, würden nicht selten von diesen Unterfirmen unter Druck gesetzt. „Wir fordern, dass auch die anderen Kurierdienste ihre Fahrer mit Tarifverträgen anstellen”, so Paschke. Die Branche profitiere von der Corona-Krise. Die Fahrer profitieren aber meist nicht. Der Einzelhandel: Mangelnder Arbeitsschutz im Großhandel, verbesserungswürdiger Umgang mit den Mitarbeitern im Einzelhandel und eine künftig „völlig veränderte” Landschaft im Handel: Das sind die Punkte, die Eberhard Buschbom-Helmke, zuständig für den Bereich Handel bei Verdi, aufzählt. Er kritisiert, dass die derzeit so oft als Helden gefeierten Mitarbeiter im Lebensmittelhandel oftmals nur Mindestlohn erhalten. „Ich wünsche mir, dass die Leute besser bezahlt werden”, sagt er. Zudem fordert er mehr Befugnisse, beispielsweise um die Corona-Abstandsregeln in den Läden besser durchsetzen zu können. Buschbom-Helmke spricht von häufig „mangelnder Weisungsbefugnis” des Personals. Zudem befürchtet der Fachmann, dass die Einzelhandelslandschaft auch in Göttingen in acht Monaten eine drastisch andere ist. „Viele stationäre Einzelhändler haben den Umstieg ins Online-Geschäft zu spät versucht”, sagt er. Wenn die Hilfsgelder in sechs Monaten auslaufen, werde es in acht Monaten eine „Marktbereinigung” geben. Er rechnet mit „dramatischen Veränderungen”. Die Gebäudereiniger: Die Gewerkschaft IG Bauen Agrar Umwelt vertritt zum einen die Baubranche, zum anderen die Forst- und landwirtschaftlichen Arbeitnehmer, aber auch die Gebäudereiniger. Die Baubranche, so der Regionalbeauftragte Eckhard Stroemer von der IG Bau, laufe auch in der Corona-Krise weitgehend stabil – allerdings seien viele Subunternehmer aus dem Ausland weggebrochen. Aber: „Massiv betroffen sind die Gebäudereiniger”, sagt er. Ein großer Teil ihrer Arbeit sei weggefallen – Universität, Verwaltungen und große Betriebe seien als Auftraggeber weggefallen. Ein Großteil der Arbeitnehmer habe in Kurzarbeit gehen müssen. „Das ist fast unerträglich”, so Stroemer. Denn: 60 Prozent eines Gebäudereiniger-Lohns sei viel zu wenig, um davon zu leben. Auf der anderen Seite leisteten die, die in Altenheimen und Krankenhäusern während der Pandemie für Sauberkeit und Hygiene sorgen, seiner Ansicht nach „systemrelevante” Arbeit. Seine Forderungen lauten deshalb: „Die Arbeitskräfte müssen mit entsprechender Schutzausrüstung ausgestattet werden”, so Stroemer. Das sei nicht immer der Fall. Zum anderen müsse „dringend” mehr für die Arbeitnehmer und deren finanzielle Abfederung getan werden. Die Metall-Branche: „Wir haben Betriebe die schon massiv von Auftragsstornierungen und Umsatzeinbußen betroffen sind“, sagt Manfred Zaffke von der IG-Metall. In einigen Betrieben gebe es Kurzarbeit. „Dazu kommen Betriebe, die noch voll arbeiten, aber wo jetzt schon klar ist, dass diese ab Mai oder Juni auch in Kurzarbeit eintreten müssen“, so Zaffke. Auf der anderen Seite stünden die Betriebe, die „erhebliche Umsatz- und Auftragseingänge“ zu verzeichnen haben. Dort habe man Regelungen bis hin zur Einführung der Sieben-Tage-Woche vereinbart, was eine erhebliche Zusatzbelastung der Beschäftigten bedeute. Von Kurzarbeit betroffen seien vor allem die Zulieferer der Automobilindustrie. „Im Maschinenbau oder Gießereien erwarten wir Auswirkungen in den nächsten Wochen und Monaten.“ Im Bereich der Nahrungsmittelindustrie und in der medizinischen Industrie hingegen gebe es Mehrarbeit. Zaffke: „Durch die schnellen Regelungen konnten massive Personalabbaumaßnahmen in Südniedersachsen bislang verhindert werden“. Aber: „Jede Hilfe und Unterstützung ist endlich“, sagt er. Und weiter: „Im großen und Ganzen hat die Politik in Deutschland richtig gehandelt.“ Erwachsenenbildung: Zwischen 500 und 1000 Jobs, so schätzt es Frank Ahrens von der Gewerkschaft Verdi ein, gibt es im Bereich des Landkreises Göttingen in der Erwachsenenbildung. Das Problem der Branche sei derzeit, dass kein Präsenzunterricht stattfindet. „Ein Umstellen auf Online-Unterricht geht nicht immer”, sagt Ahrens. Und es sei nicht mit allen Teilnehmern möglich. Beispielsweise die Volkshochschule Göttingen-Osterode ist als Arbeitgeber von mehr als 60 angestellten Mitarbeitern vom Shutdown betroffen. Die Bildungsanstalten, die Verträge mit öffentlichen Trägern wie der Arbeitsagentur oder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben, werden nach Ahrens’ Angaben weiter gefördert. Viele andere, die vor allem über Teilnehmerbeiträge finanziert werden, und auch die freien Dozenten hätten keine Einnahmen. „Das ist ein massives Problem”, so der Verdi-Fachmann. Auch Bildungshäuser wie die Heimvolkshochschule Mariaspring und die Akademie Waldschlösschen seien in ihrer Existenz bedroht. „Die Politik muss ein Auge auf diese Einrichtungen haben”, sagt er und regt einen „besonderen Schutzschirm” für Bildungseinrichtungen an. „Bildung ist wichtig”, sagt Ahrens. Denn: Wenn sich das öffentliche Leben wieder normalisiere, würden die Bildungsstätten schnell wieder gebraucht. Auch, um die, die durch Corona arbeitslos wurden, wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Lehrkräfte: Die Bildungs-Gewerkschaft GEW fordert aktuell ein Recht auf Homeoffice für alle Lehrer, die zu den so genannten Corona-Risikogruppen zählen. Dieser Anspruch, so die Kreisvorsitzende Elke Moeken, müsse „rechtssicher“ werden. Aktuell liege die Entscheidung darüber, ob ein Kollege, der zur Risikogruppe zählt, zuhause arbeiten darf oder nicht, beim Schulleiter. Zudem setze sich die GEW dafür ein, dass Masken für Schüler und Lehrer zur Verfügung gestellt werden. Das tägliche GT/ET Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Göttingen täglich gegen 17 Uhr im E-Mail-Postfach Lesen Sie auch: Der Corona-Liveticker in der Region Göttingen GEW fordert: Lehrer sollen systemrelevant sein IG Metall enttäuscht von den Grünen Digitale Maikundgebungen Von Britta Bielefeld

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