Göttingens Baudezernentin Claudia Baumgartner will ein Stadtentwicklungskonzept

Als Claudia Baumgartner vor gut einem Jahr zu einem Vorstellungsgespräch nach Göttingen kam, hatte sie sofort einen positiven Eindruck von der Stadt. Hier wollte sie gerne leben und arbeiten. Die gebürtige Münchnerin, damals noch Bau- und Umweltdezernentin in Gera, bewarb sich in Göttingen um den Posten des Baudezernenten beziehungsweise der Baudezernentin. Und sie bekam ihn. Am 1. März 2020 begann ihr Arbeitsverhältnis in Diensten der Stadtverwaltung Göttingen. Knapp zwei Wochen später legte der erste Lockdown während der Corona-Pandemie das öffentliche Leben weitgehend lahm. Wie hat sich Baumgartner in diesem außergewöhnlichen Corona-Jahr in ihrer neuen Heimat eingelebt? Welche Schwerpunkte setzt sie? Mit einer Wohnung oder einem mietbaren Haus sah es in Göttingen ganz schlecht aus. Für den Sechs-Personen-Haushalt der inzwischen 51-Jährigen fand sich im Stadtgebiet nichts Passendes. Also zog die Familie, zu der neben Baumgartner ihr Ehemann, drei gemeinsame Kinder und ihre Mutter gehören, in den nahen östlichen Landkreis. Dienbergs Büro war deutlich nüchterner eingerichtet: In Baumgartners Büro im Neuen Rathaus ist es grün. Ein gutes Dutzend Zimmerpflanzen erwecken ein bisschen den Eindruck eines botanischen Gartens, zumal das ein oder andere Grün zimmerhoch gewachsen ist. Mehrere Bilder hängen an den Wänden, Originale darunter, freilich kein Gerhard Richter oder Neo Rauch: Geschenke und Aufmerksamkeiten von Freunden, die künstlerisch unterwegs sind. Das Büro von Amtsvorgänger Thomas Dienberg war deutlich nüchterner eingerichtet. Neu ist auch der Tisch für Besprechungen. Er ist rund. „Den habe ich auswechseln lassen. Ich will keine lange Tafel“, sagt Baumgartner. „Ich will den Menschen, mit denen ich spreche, auf Augenhöhe begegnen“, beschreibt sie den Vorteil. Überhaupt sei ihr der Teamgedanke wichtig. Dabei gehe es keineswegs um immerwährende Harmonie: Es könne auch mal „auf den Tisch gehauen werden“, freilich mit guten Argumenten. Quasi alles im Leben laufe auf einen Konsens hinaus, auch die Arbeit in und mit einer Verwaltung. „Über das Reden kommen die Menschen zueinander“, sagt Baumgartner. „Ich muss eine ganze Stadt vertreten“: So lässt sich praktisch jeder Konflikt lösen? Die Mutter von drei Kindern zögert kurz mit einer Antwort. Das Streitbarsein sei leider etwas verloren gegangen, schätzt sie ein. Jeder sehe in der Regel nur noch seinen Bereich, sein Ziel, alles andere zähle nicht. Konsensbereitschaft werde als Schwäche interpretiert. „Ich muss aber eine ganze Stadt vertreten, eine Stadt, die sich weiter entwickeln muss“, betont die Dezernentin. Trifft das ausschließliche Schauen auf die eigenen Forderungen zum Beispiel auf die Bürgerinitiative (BI) Dragoneranger zu, die ein neues Gewerbegebiet mit Betonwerk in Weende verhindern will? „Dieser Plan ist auf jeden Fall nicht vom Himmel gefallen“, antwortet Baumgartner und fügt an: „Ich habe einen Auftrag des Rates der Stadt, dort ein Gewerbegebiet zu entwickeln.“ Wie dieser Auftrag trotz des Bürgerprotestes umsetzbar sein kann, sollte ein Runder Tisch vor Weihnachten klären. Der ist wegen Terminschwierigkeiten in den Januar verlegt worden. Ein neuer Termin ist für Ende Februar angesetzt. „Mehrheitsentscheidungen müssen akzeptiert werden“: Dann sollen, sagt Baumgartner, alle Argumente auf den Tisch: die der BI, der Ortsräte, der Räte aus dem Rat der Stadt, die der Fachleute... „Das ist der demokratische Prozess. An dessen Ende müssen Lösungen stehen, die vielleicht nicht allen gefallen, die dann aber – getragen durch einen mehrheitlichen Beschluss – akzeptiert werden müssen“, kommt die Dezernentin zurück zum unausweichlichen Konsens, der ein gesellschaftliches Miteinander erst möglich mache. Dem Vorschlag, das geplante Gewerbegebiet mitsamt Betonwerk anderswo entstehen zu lassen, begegnet sie mit dem Hinweis, dass die Flächennutzung in Göttingen begrenzt ist. Sprich: keine große Auswahl für Betonwerke. Lesen Sie auch Dragoneranger: Runder Tisch vorerst abgesagt, Oberbürgermeister-Kandidaten positionieren sich Beim Stichwort Stadtentwicklung blitzen ihre Augen auf. Es gebe viele Einzelbausteine in Göttingen – aber sie würden für sich stehen und nicht in einem großen Ganzen fußen. Die Innenstadt müsse sich neu ausrichten, der Handel mit der Digitalisierung gestärkt daraus hervorgehen, die Logistik optimiert werden, zählt die Dezernentin auf. Für die Innenstadt müsse geklärt werden, wie sie von Menschen von außerhalb gut erreicht werden kann: mit Park-App, Göttingen-App oder ähnlichen Hilfsmitteln. „Nicht suchen müssen, einfach finden. Mobil sein in der Stadt, aber umweltfreundlich“, setzt Baumgartner Pflöcke und nennt dabei auch sichere Parkmöglichkeiten für E-Bikes. „In der Innenstadt ist alles fußläufig zu erreichen“: Die Aufenthaltsqualität müsse eine solche Güte erreichen, dass niemand mehr auf die Idee komme, beim nächsten Mal zum Einkaufen nach Kassel oder in eine der umliegenden Städte zu fahren. „Die Innenstadt begeistert mich allein schon deshalb, weil alles fußläufig zu erreichen ist“, sagt Baumgartner und spricht von der Stadt der kurzen Wege, von einer Stadt, die lebt, die nicht nur wegen der „Schnuckeligkeit“ alter Häuser beeindruckt. Eine Stadt, in der es „hochqualifizierte Sachen“ zu kaufen gebe, bei guter, seriöser Dienstleistung. „Ich fühle mich in Göttingen sehr wohl“: „Mir schwebt ein integriertes Stadtentwicklungskonzept vor“, greift die leitende Verwaltungsmitarbeiterin wieder das große Ganze auf. Ein Patentrezept für die Gestaltung einer deutschen Stadt im 21. Jahrhundert gebe es aber nicht, das müsse jede Kommune für sich hinbekommen. Die Kunst sei es, die Leute bei Veränderungen mitzunehmen. Für sich selbst sagt sie: „Ich fühle mich in Göttingen sehr wohl.“ Ein offener Menschenschlag begegne ihr, der für Argumente offen sei – eigentlich für alle Spielarten des Lebens. „Das gefällt mir.“ Claudia Baumgartner ist Jahrgang 1970. Sie erblickte das Licht der Welt in München. Baumgartner studierte an der Technischen Universität München-Weihenstephan Landespflege mit dem Abschluss Diplom-Ingenieurin. Arbeitsstellen folgten in Landshut, Töging am Inn und Passau. Nach der Station Pirna, wo Baumgartners Ehemann als Brauingenieur in Dresden arbeitete und sie selbst in Elternzeit war, folgte Gera. Dort leitete sie fünf Jahre lang das Baudezernat der thüringischen Stadt (knapp 97.000 Einwohner). Um die Stelle des Göttinger Baudezernenten hatten sich 2019 insgesamt 25 Personen beworben. Ex-Bauderzernent Thomas Dienberg ging, nachdem sein Vertrag in Göttingen nicht verlängert worden war, nach Leipzig. Dort ist er im Juli 2020 zum Baubürgermeister ernannt worden. Warum ist sie aus Gera weggegangen? Die finanzielle Ausstattung der Stadt habe kaum Spielräume für neue Planungen, Investitionen, für Neues gelassen, blickt sie zurück. „Ich möchte aber gerne etwas gestalten und nicht nur verwalten“, hebt die 51-Jährige hervor. In Göttingen sieht Baumgartner dafür gute Chancen. Von Ulrich Meinhard