Göttinger Firma beteiligt beim Aufbau eines Teilchenbeschleunigers

Wenn der Diplom-Physiker Marcus Weinhagen seinen Freunden und Familienangehörigen erklärt, worin sein Broterwerb besteht, muss er etwas ausholen. Die Profession des Chefs der WLR Sales and Services GmbH Göttingen ist die Halbleitertechnik und die ist nicht mit wenigen Worten dargelegt. Auf dieser Technologie basiert schon jetzt quasi die gesamte Kommunikationstechnik, vom Handy bis zum Megacomputer im riesigen Rechenzentrum. Auf das Arbeiten im mikroskopisch Winzigen sind die Mitarbeiter der WLR Sales and Service GmbH mit Sitz im Güterverkehrszentrum konzentriert. Als Vater der Nanotechnologie gilt der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynmann auf Grund seines im Jahr 1959 gehaltenen Vortrages „There’s Plenty of Room at the Bottom“ (Ganz unten ist eine Menge Platz). Allerdings gebrauchte erst der japanische Wissenschaftler Norio Taniguchi den Begriff „Nanotechnologie“ 1974 erstmals. Die Halbleitertechnik ist ein Forschungs-, Anwendungs- und Geschäftsfeld, das seit Jahren geradezu Quantensprünge macht. Das zeigt sich schon beim Blick auf die Unternehmensentwicklung der Göttinger Firma. Vor knapp vier Jahren von Marcus Weinhagen gegründet, begann sie mit drei Leuten als Start-up. Inzwischen stehen 30 Frauen und Männer bei der WLR GmbH in Lohn und Brot, im nächsten Jahr sollen es 40 sein, blickt Weinhagen voraus. Willkommen im Team sind ihm Mechatroniker, Elektroniker und Mechaniker. Unternehmenszweck hat sich erweitert: Was genau machen seine Leute denn so? „Unternehmenszweck war die Planung von Vakuum- und Reinstgasanlagen, die Betreuung der Fertigung von komplexen Baugruppen sowie das Projektmanagement für Kundenprojekte. Dann hat uns ein Kunde gefragt, ob wir nicht auch die Realisierung umsetzten können bis hin zur Inbetriebnahme“, erläutert Weinhagen. „Seit 2018 machen wir auch das“, zeigt er den Weg auf. Der begann bereits vor 2016: Aufgrund der 20-jährigen Erfahrung von Marcus Weinhagen als Geschäftsführer der Trinos Vakuum-Systeme GmbH bestanden bei der Unternehmensgründung langjährige Kontakte zu Kunden aus der Halbleiter- und Beschichtungsindustrie. Um minikleine Chips herzustellen, braucht es eine spezielle Umgebung, einen Raum also, der gereinigt ist von Staub und Fett. Alle Partikel müssen raus aus der Umgebungsluft, in der produziert wird. Das Prinzip, um dieses Ziel zu erreichen, ist ein ständiges „Evakuieren“ von Luft und abwechselnd ein ständiges Belüften der Räume, in denen gearbeitet wird. Diese „Räume“ schafft die WLR Sales and Service GmbH. Mit anderen Worten: Die Firma produziert keine Mikrochips oder programmiert sie, sie schafft die Werkzeuge, die Anlagen dafür. Die WLR GmbH stellt Prototypen her, die je nach Anwendungsgebiet dann in Kleinserien produziert werden. Das GSI, der kleine Bruder des CERN: Zu den Kunden gehört das weltweit führende Unternehmen der feinmechanisch-optischen Industrie Carl Zeiss sowie das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. Diese Forschungseinrichtung der öffentlichen Hand unterhält mehrere Beschleuniger-Anlagen. Das GSI ist eine Art kleinerer Bruder des Cern, der Großforschungseinrichtung unweit von Genf, in der, ebenso wie in Darmstadt, physikalische Grundlagenforschung betrieben wird, um besser die Entstehung des Weltalls erklären zu können. Zurzeit entsteht in Darmstadt das neue internationale Beschleunigerzentrum FAIR. Es ist nach Angaben der GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH eines der größten Forschungsvorhaben weltweit. Mit FAIR soll Materie im Labor erzeugt und erforscht werden, wie sie sonst nur im Universum vorkommt. Wissenschaftler aus aller Welt erwarten neue Einblicke in den Aufbau der Materie und die Entwicklung des Universums, vom Urknall bis heute, heißt es. Im Weltraum, auf großen Planeten, auf Sternen und in Sternexplosionen ist Materie extremen Bedingungen ausgesetzt, wie etwa hohen Temperaturen, Drücken oder Dichten. An der FAIR-Anlage wollen Wissenschaftler diese Bedingungen im Labor herstellen. Dazu schießen sie Teilchen auf kleine Materialproben. Im winzigen Aufprallpunkt entsteht für einen kurzen Moment die kosmische Materie. FAIR soll Teilchenstrahlen mit bisher unerreichter Intensität und Qualität liefern. Sowohl Ionen aller natürlichen Elemente des Periodensystems als auch Antiprotonen könnten beschleunigt werden, heißt es weiter. Herzstück werde ein Ringbeschleuniger mit einem Umfang von 1100 Metern sein. An ihn soll sich ein komplexes System von Speicherringen und Experimentierstationen anschließen. Die bereits existierenden GSI-Beschleuniger dienen als erste Beschleunigungsstufe. Mit dem Verständnis vom Aufbau der Materie im Universum sollen neue Wege gefunden werden in der Materialentwicklung, auch bei der Strahlentherapie in der Krebsbehandlung. Das Wissen der Göttinger Firma WLR in der Vakuum- und Kryotechnik, der Reinigung von Komponenten und das Händeln von hochreinen und komplexen Komponenten dürfte ausschlaggebend für die Auftragserteilung am FAIR gewesen sein. Nach den Worten von WLR-Chef Marcus Weinhagen musste sich die von ihm gegründete Firma für diesen Auftrag in kürzester zeit neu erfinden. Die Ausschreibung setzte zwingend die Berechtigung zur Arbeitnehmerüberlassung voraus. „Dieser Herausforderung haben wir uns gestellt und die notwendigen Genehmigungen in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und weiteren Behörden erhalten“, verdeutlicht Weinhagen. Das Projekt in Darmstadt sei für die WLR eine „gewaltige und spannenden Aufgabe, der sich die Mitarbeiter mit Begeisterung gestellt haben“. Für das gesamte hochkomplexe Mega-Bauprojekt wurde eine integrierte Bauablaufplanung entwickelt, in der Hoch-, Tief- und Ingenieurbau sowie die wissenschaftlichen Experimente eng aufeinander abgestimmt sind, versichert das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung. Der Aufbau und die Inbetriebnahme eines neuen, 1,2 Kilometer Länge messenden Beschleunigers liegt jetzt maßgeblich in der Verantwortung der Göttinger. Ein Auftrag, der der WLR Arbeit und Einkommen für mindestens vier Jahre bescheren wird. „Am 1. September haben wir mit der Umsetzung des Auftrags begonnen“, sagt Weinhagen. Es gilt, über 6000 komplexe Vakuumkammern zu Baugruppen zusammen zu fügen, in die unterirdischen Tunnel zu integrieren und dort zu montieren. „Dafür sind wir eine Kooperation mit der Firma Thor Industriemontagen eingegangen“, erklärt Weinhagen. Hohe Ansprüche an die Reinheit: Befragt nach den eigentlichen Herausforderungen beim Aufbau komplexer Baugruppen verweist der 50-Jährige auf die Automatisierung. Die Anlagen sollen und müssen unter den beschriebenen Bedingungen der Reinheit der Luft oder auch unter Vakuum ohne ständige Eingriffe und Steuerungen des Menschen laufen. „Wir müssen die kleinsten Komponenten bedenken. Etwa: Welche Fette gehen gar nicht? Gasen die eingesetzten Kunststoffe aus? Dann müssen sie getempert, also bei hohen Temperaturen behandelt werden.“ Lesen Sie auch Hoher Besuch bei Qioptiq in Göttingen Drei Forscher teilen sich Nobelpreis für Physik Seine Fachleute, zu denen Ingenieure, Maschinenbauer, Elektro- und Automatisierungstechniker sowie Physiker gehören (viele haben promoviert), arbeiten in Reinräumen und in Schutzkleidung. Vorgegeben für solche Räume ist mittlerweile ISO 7: 10.000 Partikel pro Kubikmeter Luft sollten nicht überschritten werden, um Kontaminationen auf Optik und Halbleiter zu verhindern. Klingt nach viel, ist aber so gut wie nichts. In einem Kubikmeter Stadtluft können bis zu 100 Millionen Partikel enthalten sein. Erweiterung der Firma vorgesehen: In einem nächsten Schritt der Firmenentwicklung sollen den herausfordernden Aufgaben entsprechend hochwertige Büroflächen und eine kleine Fertigung und Reinräume für Montagen geschaffen werden. Das Bürogebäude soll nach neuesten ernergetischen und ergonomischen Gesichtspunkten errichtet werden. Hier sollen Mietflächen für weitere innovative Firmen geschaffen werden. Weinhagen spricht von einem Technologie-Cluster für Firmen mit Kunden aus der Halbleiter- und optischen Industrie. Um das Projekt umsetzen zu können, sei ein Kaufangebot für eines der letzten verfügbaren Gewerbegrundstücke im Science Park Göttingen abgegeben und ein Architekturbüro mit der Planung der Gebäude beauftragt worden, so der Firmenchef. Von Ulrich Meinhard