Göttinger Grenzstein gibt Rätsel auf

Im Zusammenhang mit der 100-Jahr-Feier der 1920 gegründeten, zu Geismar gehörenden Siedlung Treuenhagen wurde der Geismarer Ortsheimpfleger Martin Heinzelmann von einem Anwohner auf diese Steine aufmerksam gemacht. Heinzelmann hatte sie vorher noch nicht wahrgenommen. Zum einen ist sein Zuständigkeitsbereich sehr groß. Er reicht vom GDA-Wohnstift im Osten bis zum Kiessee, der teilweise zu Geismar gehört. Zum anderen: Sie stehen ziemlich versteckt. Man muss erst in einen Fußweg einbiegen (Walter-Schlieper-Weg, wie OpenStreetMap verrät, der am Nordrand der Gartenkolonie Rosengarten von der Reinhäuser Landstraße nach Westen in die Kleingartenanlage führt. Heinzelmann staunte nicht schlecht über diesen Fund. Er stellte Nachforschungen an und, siehe da, über die „Reich/Gem“-Steine gibt es Literatur. Es handelt sich um einen der heute längst vergessenen und zumeist verschwundenen Markierungssteine, mit denen ab 1934 die Zuständigkeitsbereiche für die Straßenbaulast zwischen Reich und Kommunen abgegrenzt wurden. Die Geschichte dazu wird auf der informativen Internetseite des „ Archivs für Autobahn- und Straßengeschichte “ beschrieben – einschließlich einer Muster-Bauzeichnung. In der Bundesrepublik wurden diese Steine später bald durch die sogenannten OD-Steine ersetzt, OD steht für Ortsdurchfahrt. Rätsel um den Stein: Aber worum handelt es sich bei dem rätselhaften runden Stein? Eckart Rüsch vom Niedersächsischen Amt für Denkmalpflege hat sich zusammen mit Heinzelmann die Sandstein-Stele genau angesehen und beschreibt sie so: „Sie ist etwa 55 Zentimeter hoch, hat einen Durchmesser von etwa 30 Zentimetern und dürfte wohl aus dem 19. Jahrhundert stammen. Lesbare Aufschriften gibt es nicht (mehr). Es liegt nahe, dass auch mit dieser Stele eine besondere Rechtsgrenze markiert werden sollte, aber es handelt sich nicht um einen typischen Grenzstein. Erwogen wird momentan eine ältere Spezialmarkierung der Göttinger Stadtgrenze oder ein sogenannter Weichbildstein. Wenn diese Funktion stimmt, müssten vergleichbare Zeugnisse auch noch an anderen Stellen der (alten) Stadtgrenzen gestanden haben.“ Zahlen oder Buchstaben? Mustert man den Stein näher, sieht man auf der nördlichen, also Göttingen zugewandten Seite zwei Einkerbungen, die von einem Steinmetz stammen könnten. Zahlen, Buchstaben? Das lässt sich jedenfalls auf den ersten Blick nicht entscheiden. Links steht so etwas wie ein großes L, daneben ein Bogen, der zu einem C, einem O oder einer Null gehört haben könnte. Möglicherweise kommt man der Sache näher, wenn der Stein von Flechtenbewuchs und Verunreinigungen befreit worden ist. Zwar ist die Funktion der Markierungssteine für die Straßenbau-Zuständigkeit bekannt. Steine dieser Art sind aber selten. Die Internetseite des „Archivs für Autobahn- und Straßengeschichte“ kennt in Deutschland – einschließlich des Steins am Rand von Geismar – gerade mal vier Exemplare. Doch diese Zahl ist inzwischen überholt: In Göttingen gibt es nämlich einen zweiten Stein dieser Art am ehemaligen westlichen Stadtrand. Achtung Stolperfalle: Er steht an der Kasseler Landstraße etwa in Höhe der Einmündung Salinenweg direkt an der Mauer des Stadtfriedhofs, nach Westen gesichert mit einer dreistreifigen weiß-roten Bake, die Fußgänger vor der Stolperfalle warnt. Eine weitere Suche an Göttingens ehemaliger Nordgrenze an der Hannoverschen Straße in Höhe der Liebrechtstraße blieb ergebnislos. Ob sich irgendwo im Göttinger Wald, dort, wo die Herzberger Landstraße das Stadtgebiet nach Osten verlässt, vielleicht noch ein weiterer Stein versteckt, müsste noch untersucht werden. Eckart Rüsch bittet die Göttinger Bürger, ihm bei der Aufklärung dieses Falles zu helfen. Möglicherweise sind weitere steinerne Zeugnisse noch unbemerkt erhalten geblieben. Stadt- und Landesvermessungsamt, das Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen und Stadtbauhistoriker Jan Volker Wilhelm sind bereits ergebnislos angefragt worden. Deswegen ergeht der Aufruf an historisch interessierte Göttinger, vergleichbare Steine an der (alten) Göttinger Stadtgrenze zu melden, möglichst mit Foto, genauer Lagebeschreibung und gegebenenfalls mit Hinweisen zur Geschichte. Adresse: Eckart Rüsch, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Scharnhorststraße 1, 30175 Hannover, eckart.ruesch@nld.niedersachsen.de Übrigens haben die Berliner Beamten nach den Musterzeichnungen von 1935 die Gestaltungsvorschriften für den „Reich-Gem“-Stein noch geändert. Später sollte man genau auf die Rechtschreibung achten: Hinter „Gem“ müsse ein Punkt stehen, damit man das Wort als Abkürzung versteht. Doch bei beiden Göttinger Steinen fehlt der Punkt. Entweder wurden sie gleich 1935 aufgestellt, oder der Steinmetz war renitent. Zahl: 5 Exemplare der Markierungssteine für Straßenbau-Zuständigkeit aus den 1930er-Jahren sind in Deutschland bekannt. 2 davon stehen in Göttingen: Von Michael Schäfer