Göttinger Literaturherbst: Lesung mit Sargnagel

„Kannst Du auch etwas zeichnen, bitte?“ Für den jungen Mann, der Stefanie Sargnagel nach ihrer Lesung im Alten Rathaus in Göttingen um eine Widmung in dem von ihr verfassten Buch „Dicht“ ersucht, ist die 34-Jährige keine Unbekannte. Zeichnen kann sie auch. Das weiß er. Mit einem etwas eigenwilligen Stil vielleicht – aber das trifft auch auf ihr Leben, auch auf das zu, was sie schreibt, worüber sie schreibt. „Dicht“ ist der erste Roman der 34-jährigen Wienerin. „Aufzeichnungen einer Tagediebin“ lautet der Untertitel. Zu Gast ist sie an diesem verregneten Göttinger Herbstabend im Rahmen des Literaturherbstes 2020. Im Alten Rathaus herrscht eine Vorsorgesitzordnung mit großen Lücken zwischen den Anwesenden. Gäste der Lesung dürfen erst an ihrem Sitzplatz die Schutzmaske abnehmen. Der Coronavirus grassiert allerorten. In der Welt der Literatur soll ihm keine Bühne gegeben werden. Die betritt pünktlich um 19 Uhr Stefanie Sargnagel. Ihr bürgerlicher Name lautet Sprengnagel. Ihre Entscheidung für dieses Pseudonym mag als erstes Indiz ihrer Skurrilität gelten. Eine rote Baskenmütze, die sonst zu ihren Markenzeichen gehört, trägt sie in Göttingen nicht, dafür eine rote Jacke aus Ballonseide. „Ich fand die Figuren sehr prägend“: Das Publikum ist gemischt, vielleicht im Durchschnitt etwas jünger als bei Lesungen üblich. Moderatorin Gesa Husemann begrüßt die Autorin, erwähnt, dass sie aus ihrem Buch „Dicht“ in Deutschland noch nie gelesen hat. Eine Premiere also. Sargnagel hält sich nicht groß mit Erklärungen auf. Sie habe lange Zeit nur kurze Texte geschrieben, sagt sie. Die Langform des Romans habe sie gewählt, weil sie die Geschichte ihrer Jugend erzählen wollte, eine Geschichte, in der vieles authentisch sei, wenn auch nicht zu 100 Prozent. „Ich fand die Figuren sehr prägend“, verweist sie auf Menschen wie Michi, den blonden und den schwarzen Herbert, die Kellnerin Kathi und andere mehr, mit denen sie Umgang hatte als Teenager. Nach der Lesung wird an dieser Aussage niemand zweifeln. „Aussteigen aus dem Scheiß-System“: Sargnagel spricht von dem „sehr bürgerlichen Wiener Bezirk“ in dem sie lebte. „Ich wurde auf eine konservative Schule geschickt“, berichtet sie weiter. Und dann liest sie aus ihrem Buch, in dem die Ich-Erzählerin mit ihrer Freundin Sarah die Schule schwänzt, kifft, abhängt und „aussteigen will aus dem Scheiß-System“. Die 15-jährigen Mädchen kommen überein, Granada soll es sein. Sie packen ihre sieben Sachen und machen sich auf den Weg zum Westbahnhof. Denn Granada liegt ja im Westen. Aber erst einmal einen Joint zur Stärkung. Ein nicht mehr ganz nüchterner Student fragt sie: „Was ist Zukunft?“ In Erörterung dieser Frage, unter Einbeziehung von Passanten, wird es drei Uhr morgens und die Mädchen beschließen, die Reise nach Granada auf das nächste Jahr zu verschieben. Lesen Sie auch: Jutta Allmendinger: Corona-Krise verkleinert das Vertrauensdelta Beschrieben wird eine Art Subkultur: In „Dicht“ geht es um Menschen, die eher am Rande der Gesellschaft stehen, um Alkoholiker, vom Leben Ermüdete, um Kiffer, Drogensüchtige und Diebe, um psychisch Angeschlagene, verkannte Genies, um Gescheiterte, Weggedrängte. Beschrieben wird eine Subkultur. Doch Sargnagel lässt diesen Menschen, diesen zweifellos nicht durchweg pflegeleichten Charakteren ihre Würde, gibt sie ihnen vielleicht gerade durch ihre Hinwendung zurück. Sie betrachtet sie ohne Wertung, stellt sie nicht zur Schau, erhebt sich nicht selbst. Sie leidet aber auch nicht mit ihnen, sie ist mit ihnen. So entstehen Kurzbiografien von Menschen, die in all ihrer Zerrissenheit liebenswert sind. Stefanie Sargnagel ist 1986 in Wien geboren. Sie brach die Schule ab und begann ein Kunststudium. Als Plattform für ihre Texte dienten und dienen noch immer auch soziale Medien wie Facebook. In ihrem Erstlingswerk „Binge Living“ (2013) beschreibt sie ihre Erfahrungen als Angestellte in einem Callcenter. 2015 erschien ihr Buch „Fitness“, eine Zusammenstellung von Facebook-Beiträgen. Die Wiener Zeitung schrieb einst über sie: Mit der roten Baskenmütze, den falschen Perlenohrringen und dem züchtigen Pullover entspricht Sargnagel dem Aussehen nach eher einer orthodoxen Jüdin als einem tragisch-komischen Rüpel, zu dem sie stilisiert wird. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schrieb Boris Pofalla über die heute 34-Jährige: „Alles, was von ihrem Blick und ihrem Ohr erfasst wird, gerade das Alltäglichste, bekommt eine wunderbar fettig glänzende Glasur, angerührt aus Lakonik und Wienerisch.“ 2020 veröffentlichte Sargnagel ihren ersten Roman „Dicht“. Die Ich-Erzählerin (und damit auch die Autorin) darf als Systemsprengerin gelten, als Nicht-Mitmachende. Die gesellschaftliche Ordnung, so wie sie sie als 15-Jährige vorfindet, gefällt ihr nicht, sie begehrt auf. Und ja, es muss einen Grund geben, warum es Menschen wie Michi und Co. gibt, die auf ganz unterschiedliche Weise herausfallen aus der „Herde“. Lesenswert und unterhaltsam: Hat Sargnagel also etwas zu sagen? Ja. Ihr Buch ist lesenswert, unterhaltsam, versehen mit Wortspielen, es erweitert den Horizont – bei bürgerlich lebenden Menschen garantiert. Ist Sargnagel als 15-Jährige ein Vorbild für die Jugend? Die Beantwortung dieser Frage kann nur in einer Verrenkung enden. Zuvor müsste geklärt werden, in was für einer Welt wir leben wollen. Und: „Was ist Zukunft?“ Für Michi stellt es sich so dar: „Zukunft ist, die Vergangenheit vor vollendete Tatsachen zu stellen.“ Kommissar Rex und Tobias Moretti: Vor ihrer Lesung war Stefanie Sargnagel übrigens durch die Göttinger Innenstadt gestreift. Ihre Beobachtungen postete sie auf Instagram. Zum Hirtenbrunnen sagt sie: „Das ist ja interessant. Eine Statue von Kommissar Rex und Tobias Moretti.“ Beim Anblick einer ausgelassenen Gesellschaft am Gänselieselbrunnen mutmaßt sie einen „skurrilen deutschen Brauch“, um schließlich herauszufinden, dass Doktoranden, die ihren Doktortitel in der Tasche haben, in Göttingen gerne das Gänseliesel küssen. Der Autor ist per Email zu erreichen unter u.meinhard@goettinger-tageblatt.de Lesen Sie auch Start – GT - Göttinger Tageblatt Drogen an Minderjährige verkauft Angeklagter Göttinger muss in Haft Dänemark: Grenze wegen Corona dicht - was Urlauber wissen müssen Von Ulrich Meinhard