Göttinger „OM10“: Vom besetzten Haus zum politischen Wohnraum

Im November 2015 sorgte das Gebäude an der Oberen-Masch-Straße mit der Hausnummer 10 für Schlagzeilen: Das ehemalige Gewerkschaftshaus, das sechs Jahre lang leer gestanden hatte, wurde von Flüchtlingsunterstützern besetzt, unter anderem um Wohnraum zu schaffen. Seither ist die Immobilie als „OM10“ bekannt – und seit 2017 im Besitz der ehemaligen Besetzer, die es mithilfe der kooperativen Beteiligungsgesellschaft „Mietshäuser Syndikat“ vom Deutschen Gewerkschaftsbund erwarben. Nach fünf Jahren steht der Umbau kurz vor dem Abschluss, und es wurde Wohnraum für mehr als 20 Menschen geschaffen. Viel ist nicht mehr zu erledigen in der „OM10“: Eimer mit weißer Farbe und Folie künden im Treppenhaus davon, dass gerade gestrichen wird. Der Eingangsbereich erhält noch ein Vordach, und im Innenhof sind für einen Balkon bereits Träger ins Mauerwerk eingelassen. Ihr Versprechen, dauerhaft preiswerten Wohnraum zu schaffen und Geflüchteten eine Unterkunft zu bieten, haben die ehemaligen Besetzer jedoch schon längst eingelöst. Große Solidarität beim Umbau der „OM10“: „Wir hatten schon Respekt vor der Baustelle. Uns hat geholfen, dass wir den Umbau in kleine Bauabschnitte unterteilt haben“, sagt die 62-jährige Almut Schilling, die zu den Unterstützerinnen des Projekts zählt. Geholfen hätten auch viele Handwerker, die wegen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Eigentümergesellschaft zu Sonderkondition tätig gewesen seien. Vieles wurde jedoch in Eigenarbeit erledigt. Federführend sei eine Arbeitsgruppe gewesen, in der handwerklich ausgebildete Mitglieder andere angeleitet hätten. „Es war eine große Herausforderung. Ich bin total begeistert davon, dass es so geklappt hat, und stolz auf die Leute, die sich so solidarisch eingebracht haben“, sagt Robert Ilse, der selbst in der „OM10“ lebt. Neben einer großen Wohnung im Hausteil 10a, die von einer siebenköpfigen Familie bewohnt wird, sind in der „OM10“ eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung und zwei große Wohngemeinschaften beziehungsweise eine WG über zwei Stockwerke hinweg entstanden – wo früher Gewerkschaftsbüros waren, haben nun unter anderem Geflüchtete ein Dach über dem Kopf. Eine Bewertung des Projekts möchte die Verwaltung der Stadt Göttingen auf Anfrage nicht vornehmen, zumal „OM10 der Stadt beispielsweise nicht als anerkannte Beratungsinstanz bekannt“ sei. Auf die Frage, ob die Besetzung und die sich anschließende Entwicklung bei der Stadtverwaltung im Hinblick auf Schaffung von bezahlbarem Wohnraum zu einem Umdenken geführt habe, und wie die Situation bewertet werde, macht die Verwaltung klar, dass die Stadt Göttingen „seit Jahren aktiv eine Politik“ betreibe mit der sie dem Wohnraummangel begegne. Als Beispiele werden angeführt: 2017 Gründung des Göttinger Bündnisses für bezahlbaren Wohnraum, 2018 Verabschiedung des Handlungskonzeptes zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums (beinhalte eine 30-prozentige Quote für sozialen Wohnungsbau bei allen Neubauten ab zwölf Wohneinheiten, eine kommunale Förderung für sozialen Wohnungsbau in Höhe von 3,5 Millionen Euro und den Ankauf von Belegrechten für Gruppen, die auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt sind), 2019 Erlass einer Zweckenentfremdungssatzung, um die Zweckentfremdung von Wohnraum (Leerstand, Vermietung als Ferienwohnung, Abriss, Nutzung zu anderen als Wohnzwecken) zu unterbinden und eine Schaffung von Planrecht (von 2016 bis dato) für mehr als 2500 Wohneinheiten. Daneben hätten Stadt und Städtische Wohnungsbau seit 2016 rund 20 Millionen Euro in die Schaffung von Unterkünften für Geflüchtete investiert. Der 100 Quadratmeter große Saal soll als Versammlungsort erhalten bleiben, im Erdgeschoss sind neben einem Aufenthaltsbereich Projekträume von politischen Gruppen angesiedelt. Auch die Supporters Crew 05 der Fans des Fußballklubs I. SC Göttingen 05 hat hier ihren Fanraum. „Die OM10, das sind BewohnerInnen und UnterstützerInnen“, verdeutlicht der 25-jährige Ilse. Finanziell ist das Projekt auf Unterstützung etwa durch Spenden oder Erbschaften angewiesen: Zwar würden die laufenden Kosten gemäß Finanzplan aus regelmäßigen Einnahmen beglichen, „aber Geflüchtete haben einen Non-Stop-Bedarf“, verdeutlicht Schilling: Rechtsanwalts- oder Wohnraumkosten fielen an, „es geht weit über das Wohnen hinaus“. Eigentümer ist die „Our House GmbH“, eine Gesellschaft, die aus dem gemeinnützigen Verein „Our House OM10“ und dem Mietshäuser Syndikat besteht. Die Beteiligung des Syndikats gewährleiste nun dauerhaft günstige Mieten und habe bei einem Verkauf Vetorecht, berichtet Ilse. „Damit Wohnraum bezahlbar ist, wünschen wir uns, dass möglichst viele Häuser über das Mietshäuser Syndikat dem Markt entzogen werden.“ Von der Göttinger Politik erhoffe man sich ein Zeichen, „dass Investoren nicht erwünscht sind“ – jedoch: „Das Gegenteil ist der Fall.“ Entschieden wird basisdemokratisch im Plenum: Grundsätzlich wird im OM10 basisdemokratisch im Plenum entschieden, „um so viele Mitglieder wie möglich an der Entscheidung teilhaben zu lassen“ unterstreicht Ilse. „Wie wir hier zusammenleben, ist sehr politisch. Die politische Arbeit ist der wichtigste Teil des Projekts.“ Das sieht auch Schilling so: „Wir sind eine Anlaufstelle für Beratungen über Asyl- und Sozialrecht.“ Durch das Haus sei für die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren, eine Basis geschaffen worden, aber auch „für eine andere Form des Zusammenlebens“ – über Generationen- und Kulturengrenzen hinweg. Lesen Sie auch Corona-Pandemie: Wie können Flüchtlinge und Obdachlose geschützt werden? Göttinger Projekt OM10 berät Geflüchtete Göttinger Anwalt Adam: Wieder mehr Geld für Flüchtlinge in Corona-Krise Göttingen: Bislang keine Corona-Fälle in Flüchtlingsunterkünften Sie setze sich seit langer Zeit für linke Politik ein, aber für sie als 62-Jährige hätten die vergangenen fünf Jahre „die lebendigste politische Arbeit in meinem ganzen Leben“ bereitgehalten, sagt Schilling. Und das nicht zuletzt, weil es Spaß mache, „Zuspruch und Erfolg zu haben“. Von Eduard Warda