Göttinger Weihnachtsmänner kommen virtuell in die Wohnzimmer

So ein Weihnachtsmann hat es an Heiligabend schwer – und in Corona-Zeiten noch schwerer: Läuft er von Wohnzimmer zu Wohnzimmer und beschert Kinder, kann er leicht zum Superspreader werden, kommt er nicht, gibt es lange Gesichter. Deshalb hatte die Agentur für Arbeit Göttingen, die seit den 80er-Jahren Weihnachtsmänner für die Bescherung vermittelt, die Idee, den Rauschebart auf eine virtuelle Stippvisite zu schicken. Die Idee hat bereits Schlagzeilen gemacht, und dank der Presseberichterstattung ist der Göttinger Online-Weihnachtsmann lange vor Heiligabend bundesweit bekannt. Eigentlich stammt die Idee nicht von der Agentur, sondern von einem Weihnachtsmann: In Göttingen fing es für ihn während des Studiums 2004 an, 2013 verschlug es den examinierten Studenten nach Bonn. „Aber Heiligabend war ich immer der Weihnachtsmann“, erzählt er – beim Gespräch wird schnell klar, das alte Männer mit weißem Bart, roter Zipfelmütze und Sack über der Schulter nicht ihren bürgerlichen Namen in der Zeitung lesen wollen, sondern schlicht und einfach der Weihnachtsmann sind. Das hat mit der Aufrechterhaltung von Illusion zu tun, vor allem aber mit der Buchung: Wenn beispielsweise in Göttingen die Anfrage nicht über die Agentur für Arbeit läuft und der Name des Weihnachtsmannes bekannt ist, steht dessen Handy bis Heiligabend um 16 Uhr nicht mehr still – ein Erfahrungswert. War die Idee eine göttliche Eingebung? Der Bonner Weihnachtsmann hatte hin- und hergegrübelt: „Wie können Kinder in Corona-Zeiten doch noch beschert werden?“ Vielleicht war es eine göttliche Eingebung, in jedem Fall griff er zum Hörer und wählte die altbekannte Nummer bei der Göttinger Agentur für Arbeit. Monika Skotnik, seit 1988 in der Jobvermittlung der Agentur tätig und für die Vermittlung von Weihnachtsmännern zuständig, nahm ab und vernahm folgende Worte: „Ich hätte da eine Idee: Wir machen es diesmal per Skype.“ Skotnik war sofort begeistert, und nun gibt es eine Online-Bescherung – der Weihnachtsmann kommt virtuell per Handy oder Tablet ins Wohnzimmer. „Man kann ja nicht als Superspreader von Tür zu Tür gehen“, verdeutlicht der ideenreiche Bonner Rauschebart. Der Videotelefonie-Dienst Skype bietet seiner Meinung nach gute Voraussetzungen für eine sehr gute Bescherung, die zwar nicht physisch sei, aber den Bedürfnisse der Kinder gerecht werde. „Wir können ein weihnachtliches Hintergrundbild verwenden und haben das goldene Buch mit den Taten der Kinder vor uns.“ Ebenfalls zu den Weihnachtsmännern der ersten Stunde, die in den 80er-Jahren noch vom damaligen Arbeitsamt vermittelt wurden und sich fast ausschließlich aus der Studentenszene rekrutierten, gehört ein Göttinger Weihnachtsmann, der mittlerweile 58 Jahre alt ist und für den der Auftritt an Heiligabend so etwas wie eine Mission darstellt. „Jeder Mensch hat seine Berufung, und für mich ist es diese“, sagt er. „Ich hatte eigentlich mit Weihnachten gebrochen und bin über die Schiene der wirtschaftlichen Not dazugekommen“, berichtet er von seinen Anfängen. Schon bald ging ihm ein Lichtlein auf – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier: „Der Weihnachtsmann ist eine Institution, und es ist viel mehr als ein Job“, wurde ihm klar. Lesen Sie auch Schnee an Weihnachten? Gibt es Weiße Weihnachten 2020 in Göttingen? Göttinger Wissenschaftler: Soviel Sicherheit bringt ein Corona-Schnelltest vor dem Fest Kostenlose FFP2-Masken in Apotheken: Die wichtigsten Fragen und Antworten Göttingen: So sind die virtuellen Weihnachtsmänner zu buchen Seitdem ist er jedes Jahr an Heiligabend unterwegs, und die Bescherung will akribisch geplant sein, denn für ihn ist es schließlich eine heilige Handlung: Rute, Glocke und das Gute-Taten-Buch sind obligatorisch, genauso wie die Probetour am 23. Dezember, wenn die Strecke abgefahren und die Zeit gemessen wird. Der Online-Kartendienst Google Maps sei ihm in den vergangenen Jahren eine große Hilfe gewesen. Aufräumen ist seit 30 Jahren ein wiederkehrendes Thema: Absolut notwendig sind demgegenüber der Sack mit den Geschenken, der versteckt in der Garage oder hinter der Hausecke steht, und die Informationen der Eltern. Ein großes Thema sei stets Aufräumen beziehungsweise unterlassenes Aufräumen: „Das begleitet mich durchgängig seit 30 Jahren.“ Früher wurde mit den Eltern telefoniert, „seit zehn Jahren erfolgt die Bestellung auf der Mail-Ebene“ – ebenfalls eine Erleichterung. Als Weihnachtsmann sei er naturgemäß Traditionalist, „aber man muss auch mit der Zeit gehen“. So wie vor nicht allzu langer Zeit in Bovenden: Eltern und Großeltern hätten im Wohnzimmer um den Baum herumgesessen und auf die Bescherung gewartet, die Kinder im Keller Ballerspiele am Computer gespielt. Weil der Weihnachtsmann bekanntlich alles weiß, wurde diesmal kein Buch, sondern ein Laptop aufgeklappt – die Augen der Kinder, die mittlerweile am Baum eingetroffen waren, weiteten sich. „Thema Aufräumen: Habt ihr denn auch brav euern PC defragmentiert?“ – „Das wollten wir gleich morgen machen!“ Und als der Weihnachtsmann dann auch noch einen alten, verrosteten Käfig hervorholte, um das Meerschweinchen, um das sich seit geraumer Zeit nicht gekümmert worden war, mitzunehmen, gelobten die Kinder hoch und heilig Besserung. Resultat: Die Großeltern beschwerten sich, weil sie nicht wussten, was defragmentiert bedeutet, das Meerschweinchen wurde laut elterlichem Bericht regelrecht verwöhnt von den Kindern. Heiligabend-Bescherung durch einen leibhaftigen Weihnachtsmann – was gibt die momentane Verordnungslage her? Wir haben bei der Stadtverwaltung Göttingen nachgefragt. „Die Niedersächsische Corona-Verordnung schreibt vor, dass in der Zeit vom 24. Dezember bis zum Ablauf des 26. Dezember 2020 nur Personen des eigenen Hausstandes und vier weitere Personen des engsten Familienkreises zusammenkommen dürfen. Der Besuch eines ,beauftragten’ Weihnachtsmannes ist gemäß der aktuell gültigen Verordnung unzulässig, es sei denn, der Weihnachtsmann kommt aus dem engsten Familienkreis“, heißt es in der Antwort der Stadtverwaltung. Im Corona-Jahr 2020 geht es nicht mehr um defragmentierte, also unaufgeräumte Computer – „in diesem Jahr ist die Rute virtuell“, unterstreicht der Göttinger Weihnachtsmann. „Bei Unartigkeit kann ich maximal einen Computervirus durchs Internet schicken.“ Nicht nur in Bonn, sondern auch in Göttingen wurde bereits gegrübelt: „Arbeitet der Weihnachtsmann in diesem Jahr mit Amazon oder DHL zusammen? Fragen über Fragen stellen sich.“ Nur eins steht fest – „in diesem Jahr kommen die Leute zu mir. Es muss also aufgeräumt sein“, witzelt der Göttinger Weihnachtsmann. Zwar ist der Preis frei verhandelbar, aber die Agentur hat als Richtwert 35 Euro ausgegeben. Darin enthalten ist der technische Aufwand des Weihnachtsmannes. „Für mich ist das eine gewaltige Umstellung“, sagt der Göttinger Rauschebart. „Der Online-Weihnachtsmann ist so eine Sache.“ Trainiert wurde bereits mit dem Neffen in München – nicht ganz uneigennützig: Zu den Bescherten gehört Heiligabend auch der zweieinhalbjährige Großneffe, der dann planmäßig im Krankenhaus mit dem Weihnachtsmann skyped. Denn der errechnete Geburtstermin des Geschwisterchens ist der 24. Dezember. Ein Weihnachtsmann, der bereits einen Großneffen hat, ist schon seit längerer Zeit im Einsatz. Präzise: seit 1988, genauso lange wie Monika Skotnik als Weihnachtsmann-Vermittlerin. „Ich hatte kein Geld und konnte als Student nicht mal nach Hause fahren“, berichtet der Göttinger Mann in Rot. „Dann kam der erste Abend, und der war richtig gut. Ich hatte 13 Auftritte, und Touren über Land wurden extra bezahlt.“ 600 bis 700 Mark habe er eingenommen, „und eine Flasche Alkohol gab es immer dazu, ob du wolltest oder nicht“. Was waren das Zeiten – es gab sogar noch Schnee, so wie 2010 in Rosdorf, als der Weihnachtsmann mit seinem Pkw in einer Wehe stecken geblieben ist und darum bitten musste, angeschoben zu werden. Im Eichsfeld ist der Weihnachtsmann einmal in den Straßengraben gefahren, musste drei Kilometer zum nächsten Bauernhof laufen und bekam als erstes vom Bauern zu hören: „Dich haben wir nicht bestellt!“ Gegen 23 Uhr zog der Bauer das Auto mit seinem Trecker aus dem Graben, aber erst nachdem er mit dem Weihnachtsmann Unmengen an Grog getrunken hatte, sodass eine Weiterfahrt ausgeschlossen war. Der Verdienst ist längst zur Nebensache geworden: Heute sei für ihn der Verdienst Nebensache, berichtet der Göttinger Rauschebart, „als Student habe ich das anders gesehen“. Die „Begegnung von Auge zu Auge“, die Bescherung, die Freude – das alles gibt es diesmal nur virtuell. „Du ziehst deine Weihnachtsmannkutte an und könntest theoretisch in der Badehose dasitzen.“ Es sei eine Herausforderung, und bei aller Freude, die er auch diesmal bereitet, hoffe er, „dass es einmalig bleibt. Ich mag es lieber analog.“ Den Analog-Einsatz hätte er „nach 30 Jahren aus dem Ärmel geschüttelt“, und genauso geht es dem Bonner Weihnachtsmann, dem Erfinder der virtuellen Bescherung, die sich dank der Presseberichte bundesweit herumgesprochen hat – und womöglich auch bundesweit stattfindet: Aus Bonn per Skype in Göttingen oder Berlin zugeschaltet zu sein, ist diesmal kein Problem. Die Arbeitszeit des Bonner Weihnachtsmanns beginnt um 12 und endet um 20 Uhr, bei rund vier Bescherungen pro Stunde, hat er sich ausgerechnet, kommt er maximal auf 25 bis 30 Übertragungen. Aus einer schönen Bescherung wird somit im Corona-Jahr doch noch eine schöne Bescherung. Von Eduard Warda