Göttingerin lebt fünf Jahre auf der Straße

Kalle, der braune Mischling liegt neben Paula (Namen geändert), seine traurigen Augen sind auf den Fremden gerichtet, der ihm gegenübersitzt. Die beiden sind untrennbar, seit Paula ihren vierbeinigen Begleiter vor Jahren verletzt und verängstigt aus dem Drogen-Milieu gerettet hat. „Er hat mir schon viele Male das Leben gerettet“, sagt Paula und lacht. Umgekehrt gilt das wohl auch. Die heute 22-jährige Göttingerin lebt mit einigen Unterbrechungen seit sechs Jahren auf der Straße. Gerade vor wenigen Tagen hat sie erneut das Dach über dem Kopf aufgeben müssen. Stress mit den Mitbewohnern, wieder einmal. Sie ist beinahe noch ein Kind, als sie aus dem Haus der Eltern abhaut. Dem Haus, in dem sie kurz vor ihrem 16. Geburtstag von einem Bekannten vergewaltigt wird. Der Vater, der auf sie aufpassen soll, bekommt im Alkoholrausch nichts mit. Die Mutter, die erst am nächsten Morgen von der Nachtschicht kommt, erfährt erst später von den Ereignissen. Beide verweigern Paula die Unterstützung, als sie ihren Peiniger zur Rechenschaft ziehen will. 80 Euro im Monat: Die Beziehung zu den Eltern ist seit langem belastet, jetzt hat Paula endgültig genug. Sie kappt die Kontakte. Die einzige Verbindung zu ihren Erziehungsberechtigten ist die Überweisung ihres Taschengeldes: 80 Euro. „Sie hatten die Hoffnung, dass ich wiederkomme, wenn das Geld nicht reicht. Aber ich bin nicht zurückgegangen.“ Statt dessen lernt das Mädchen, mit wenig auszukommen. Sie ernährt sich von Dingen, die andere wegwerfen, und schläft meistens auf Sofas von Bekannten. Mancher fordert dafür eine Gegenleistungen. Und Paula beginnt zu trinken, zu viel zu trinken. „Damit konnte ich besser schlafen“, sagt Paula heute und schickt hinterher, sie habe es mittlerweile im Griff. Dafür habe sie allerdings durch die Hölle gehen müssen. Mit 17 Jahren macht sie einen kalten Entzug, leidet wochenlang unter den Nebenwirkungen. Anderen Drogen kann sie hingegen widerstehen. Wohl mal probiert, aber nie drauf hängen geblieben. Und das obwohl ihr damaliger Freund konsumiert. Mit ihm zieht sie in ein winziges Zimmer, hat vorübergehend eine Bleibe und jemanden, der sie unterstützt. In der Schule gemobbt: Die Schule hat sie da bereits abgebrochen – ein Jahr vor dem Abschluss. Die anhaltenden Gemeinheiten ihrer Mitschüler waren irgendwann zu viel für das eigentlich selbstbewusste aber eben doch verletzliche Mädchen. „Seitdem habe ich irgendwie ein Problem mit Gleichaltrigen.“ Wieder lacht Paula über ihre eigene Erzählung. Um ihre allgemeine Schulpflicht zu erfüllen, absolviert sie eine Schulersatzmaßnahme und hat Glück. Ihre Betreuer schicken sie zur Abendschule und sorgen dafür, dass sie die mittlere Reife schafft. Mit guten Noten. An eine feste Anstellung oder eine Ausbildung ist im Anschluss aber noch nicht zu denken. Statt dessen hält sie sich mit Jobs über Wasser. Zwischenzeitlich erhöhen außerdem die Eltern ihre finanzielle Unterstützung. Paula kann sich eine Wohnung leisten, die sich aber nach wenigen Monaten wieder verliert, als das elterliche Geld wieder gekürzt wird. Vom Ex verfolgt: Ihr Leben ist ein ständiges Auf und Ab. Erlebt sie einen Glücksmoment, folgt wenig später der nächste Tiefschlag. Mal fühlt sie sich unter Gleichgesinnten geborgen, mal irrt sie im tiefsten Winter ganze Nächte völlig allein durch die Stadt, weil ihr niemand die Tür öffnet. Sie baut Beziehungen auf und überlebt diese manchmal nur knapp. Beim letzten Versuch stellt ihr ein Ex-Freund mit einer Waffe nach. Als er vor der Tür steht, schnappt sie sich den Hund und läuft. Sie kann entkommen. „Nur der Arm war gebrochen, Glück gehabt.“ Wieder dieses Lachen. „Es ist ein blöde Angewohnheit“, versucht Paula zu erklären. Irgendwann habe sie halt angefangen, über das eigene Leben zu lachen. „Es war eine Scheiß-Zeit“, sagt sie rückblickend. Trotzdem wäre sie nie auf die Idee gekommen, den Schlüssel zum Elternhaus zu benutzen, den sie die ganze Zeit bei sich trug. Sie hätte in ihr altes Leben zurückkehren können. „Ein Teil von mir war wohl zu stolz.“ Ein anderer zu zornig. Lesen Sie auch: Obdachlosigkeit in Göttingen: Immer mehr Menschen landen auf der Straße Happy End? Vor wenigen Wochen hat Paula eine Ausbildung begonnen. Endlich ein eigenes regelmäßiges Einkommen. Sie hat Erfolgserlebnisse und schon jetzt eine Perspektive für die Zeit danach. Für den bevorstehenden Winter hat sie sich eine sichere Unterkunft organisiert. Während des gesamten Gesprächs streichelt Paula immer wieder ihren Kalle. Schließlich erzählt sie dem Fremden ihre gemeinsame Geschichte. Doch deren letztes Kapitel steht kurz bevor. Vielleicht noch 14 Tage haben die beiden miteinander. Vor einigen Wochen wird bei dem Hund eine schwere Krankheit diagnostiziert. Die anschließende Therapie, für die sich sein Frauchen hoch verschuldet, bleibt erfolglos. Paulas Versuch, sich davon unbeeindruckt zu geben, wirken nicht echt. Die Jahre auf der Straße waren eine harte Schule, sie haben sie zu schnell erwachsen werden lassen. „Es kann doch nicht mehr schlimmer werden“, sagt sie. Hoffentlich behält sie recht. Weder in der Stadt noch im Landkreis Göttingen wird die konkrete Zahl der Obdachlosen ermittelt. Insider gehen jedoch von mindestens 1000 Menschen ohne feste Bleibe allein in der Stadt Göttingen aus. Tendenz steigend. Hauptgrund dafür ist die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt. Wie in vielen deutschen Städten fehlt auch in Südniedersachsen bezahlbarer Wohnraum. Als Akuthilfe für Obdachlose und Durchreisende hält die Stadt Schlafplätze im Maschmühlenweg 139d und für Frauen im Neuer Weg bereit. Letztere sind nach Auskunft der Stadt derzeit alle belegt. Anlaufstellen für Betroffene in Göttingen sind außerdem die Straßensozialarbeit der Diakonie (Straso) in der Tilsiter Straße 2a, die Unterkunft der Heilsarmee in der Untere-Masch-Straße 13 b oder der Verein Förderer im Rosdorfer Weg 19. Von Markus Scharf

Obdachlosigkeit - Weiblich, jung, obdachlos – wie eine 22-Jährige in Göttingen auf der Straße lebt