Kommentar Göttingen als Corona-Modellkommune – Brandgefährlich und unnötig

Die Stadt Göttingen als Corona-Modellkommune? Unbedingt, werden nicht wenige Menschen sagen. Endlich wieder ein Getränk im Straßencafé genießen oder eine Aufführung im Theater – und das alles regelkonform mit negativem Corona-Test. Eine echte Perspektive für alle Einwohner von Stadt und Landkreis Göttingen nach langen Monaten der Entbehrungen. Doch was sich vielversprechend anhört, ist nicht nur unnötig, sondern auch brandgefährlich – aus mehreren Gründen. Da wäre der Inzidenzwert, ein Richtwert, der auch beim Modellprojekt selbst eine tragende Rolle spielt. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Göttingen ist binnen einer Woche stark gestiegen, von 46,6 am 26. März auf 78,8 am 2. April. Ähnlich sieht es beim Inzidenzwert für die Stadt Göttingen aus, auch wenn sich die Entwicklung dort auf einem niedrigeren Niveau abspielt (von 21,8 auf 60,5). Lesen Sie auch: Das ist die aktuelle Zahl der Infizierten Der Trend ist aber eindeutig: Die Zahlen steigen. Mitten in der dritten Welle nun einen Testlauf mit Lockerungen zu starten, ist verantwortungslos und macht die Entscheidungsträger angreifbar. Denn klar ist: Das Modellprojekt wird nicht dazu führen, dass die Zahlen sinken. Bestenfalls steigen diese dadurch nicht noch stärker an als ohnehin schon. Anderenfalls aber würde das Modellprojekt schnell als Ursache allen Übels abgestempelt und auf Dauer diskreditiert werden – Wiederholung ausgeschlossen. Da hilft es wenig, wenn sich wegen der Maßgabe, die Lockerungsangebote nur mit negativem Corona-Test wahrnehmen zu dürfen, die Zahl der Tests erhöhen sollte. Das könnte man auch anders hinbekommen: mit besserer Aufklärung und leichterem Zugang. Beispiel Tübingen: Und dann wäre da noch die Stadt Tübingen, die in den vergangenen Wochen stets herhalten musste als Musterbeispiel für derlei Projekte. Mittlerweile steigen auch dort die Zahlen rapide an, verdoppelten sich innerhalb einer Woche. Die Initiatoren werden zusehends nervös, ein vorzeitiges Ende des Modellprojekts ist nicht ausgeschlossen. Zuletzt stoppte die Stadt das Corona-Tagesticket für auswärtige Gäste, weil sie schier überrannt wurde. Menschen, die nicht in Stadt und Landkreis Göttingen leben, wären zwar von dem Göttinger Modell ausgeschlossen. Doch es sind eben nicht nur Touristen und Tagesgäste, die für steigende Inzidenzen in Tübingen sorgen. Immer mehr Menschen versuchten die Regeln zu umgehen, berichtete zuletzt die Notärztin Lisa Federle, Initiatorin des Tübinger Modellversuchs. Einige ignorierten die Maskenpflicht, andere versammelten sich in Trauben in der Innenstadt, ohne Abstand und ohne negativen Test. Denn testen lassen muss sich nur, wer im Straßencafé Platz nimmt, einen Laden betritt oder eine kulturelle Veranstaltung besucht. Vielleicht ist auch das eine harte, aber wichtige Lehre: Wer öffnet, sendet das Signal, alles sei gut, alles vorbei. Lesen Sie auch Göttingen als Corona-Modellkommune? Antworten auf die wichtigsten Fragen Kultur in der Corona-Modellkommune: „Wir wollen zeigen, dass wir noch da sind“ Corona-Modellkommune Göttingen: Gastronomen sind zwiegespalten Die unterschiedlichen Strategien der Nord-Bundesländer Das aber ist es beileibe nicht. Angesehene Wissenschaftler warnen seit geraumer Zeit vor Lockerungen und fordern stattdessen einen harten Lockdown. Da passen Öffnungsstrategien nicht ins Bild. Zumal das Ganze als Versuch angelegt ist, der nun in Dutzenden Städten Niedersachsens unternommen werden soll. Ein Versuch bedeutet aber immer, dass es Versuchskandidaten gibt – in diesem Fall wären das Besucher von Straßencafés und Kultureinrichtungen sowie deren Mitarbeiter. Es ist also ein Versuch am lebenden Objekt – ein gefährlicher und unnötiger noch dazu. Denn in Tübingen hat es sich bereits gezeigt: Ein solches Modell funktioniert bei steigenden Inzidenzen nicht – und die gibt es derzeit überall, auch in Göttingen. Geringe Infektionszahlen aber seien die wichtigste Voraussetzung für Lockerungen, betont die Tübinger Notärztin Federle. Öffnungspläne anderer Kommunen, die dem Beispiel folgen wollen, beunruhigen sie deshalb. Wenn man jetzt mit einer Öffnung beginne, bekomme man das Infektionsgeschehen nicht in den Griff, sagt sie. Eine eindeutige Erkenntnis. Dafür braucht es nicht noch weitere Modellprojekte – zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Von Andreas Fuhrmann