„Mein Landleben“: Enttarnung eines Kindheits-Glaubens

Früher dachte ich, dass Schneeglöckchen im Januar blühen. Und zwar bereits in der ersten Januar-Hälfte. Ich war ein Kind. Und jedes Jahr im Januar brachte mir mein Opa einen dicken Strauß Schneeglöckchen zum Geburtstag. Irgendwann kam ich in die Phase, in der Kinder allem innig Geliebten eine Seele zusprechen. Egal, ob es Teddys oder Schneeglöckchen sind. In dieser Phase habe ich meinem Opa verboten, die Schneeglöckchen abzupflücken. Aber er brachte mir weiterhin den ersten Frühlingsgruß des Jahres zum Geburtstag – in einem kleinen Topf mit Erde. Vor Jahren habe ich eine Beobachtung gemacht, die mich sehr erstaunt hat: Schneeglöckchen blühen meistens, wenn Karneval ist. Und Karneval ist nie im Januar. Schon gar nicht in der ersten Monats-Hälfte. Das weiß ich, seit in meinem eigenen Garten jedes Jahr Schneeglöckchen zum Vorschein kommen. Dabei hat mir Schlagersänger Heintje das früher doch oft genug im Fernsehen vorgesungen, dass die im Februar wachsen. Jedenfalls muss mein Opa stets die Natur überlistet haben, um seiner Enkeltochter eine Freude zu machen. Ich habe eine schwache Erinnerung daran, mich einmal beschwert zu haben. Darüber, dass meine Schwester zu ihrem Geburtstag im März immer Märzbecher aus dem Garten meines Opas bekam – und ich im Januar nicht. Vielleicht musste er deshalb, aus Mangel an Märzbechern im Januar, auf die Schneeglöckchen zurückgreifen und die Natur überlisten. Ich stelle mir vor, wie er die weißen Winterblümchen in der sonnigen Fensterbank zum Leben erweckt und mir schließlich gebracht hat. So ähnlich muss es gewesen sein. Erinnerungen an den Großvater: Deshalb werde ich Anfang des Jahres zweimal richtig sentimental. Einmal, wenn ich Geburtstag habe und niemand kommt, um mir meine Schneeglöckchen zu bringen. Wahrscheinlich weiß auch niemand, dass mein Geburtstag ohne diese zarten Blüten eigentlich nicht stattfinden kann. Das zweite Mal werde ich sentimental, wenn ich dann wirklich die ersten Schneeglöckchen sehe. So wie jetzt. Bei mir sind sie immer etwas später dran. Sie haben es schwerer als anderswo. Das liegt an den vielen Bäumen und der von ihnen produzierten Laubschicht. Es dauert, bis sich die Schneeglöckchen da durchgearbeitet haben. Aber jetzt sind sie da, meine Geburtstags-Blumen. Jedes Jahr entfährt mir bei ihrem Anblick ein entzückter Aufschrei, der – würde ihn jemand hören – sicher etwas übertrieben wirken würde. Aber ich freue mich wirklich wie ein Kind über diese ersten kleinen Blumen in ihrem reinweißen Gewand. Dann denke ich immer an meinen Opa. Und daran, dass der Winter jetzt geht und der Frühling kommt. Gekommen ist vor einigen Tagen übrigens auch eine Freundin. Sie stand mit einem kleinen Strauß Schneeglöckchen vor der Tür. Dabei hatte ich doch gar nicht Geburtstag! Info: Sie erreichen die Autorin unter E-Mail: autorin@anke-weber.de Instagram: https://www.instagram.com/ankeweber_author Facebook: : https://www.facebook.com/ankeweberautorin Von Anke Weber

„Mein Landleben“ - Enttarnung eines Kindheits-Glaubens