Mein Landleben: Streiche der Wahrnehmung

Es gibt überall und jederzeit die Möglichkeit, etwas Überraschendem zu begegnen. Sogar auf dem eigenen Grundstück. Mein Garten ist eine Quelle erstaunlicher Dinge. Es gibt komische Käfer, lustige Eichhörnchen, Gartenschläuche, die gegen mich zu kämpfen scheinen, und ähnliche Dinge. Jedenfalls halte ich stets die Augen offen – bereit für neue Wunder. Bisher habe ich gedacht, ich könnte gar nicht aufmerksam genug sein. Inzwischen spreche ich eine deutliche Warnung aus: Das ständige Achten auf Ungewöhnlichkeiten kann zu Wahrnehmungsstörungen führen. Nähfaden-Haufen wird zur Spinne: Es ist schon häufiger passiert, dass ich irgendwo im Feld ein Reh gesehen habe und es bei genauerer Betrachtung gar kein Reh war. Sondern ein Steinhaufen. Oder ein Busch. Unvergessen bleibt auch der Stock, den ich während eines Namibia-Urlaubs für eine Schlange gehalten habe. Kürzlich habe ich sogar in meinem nur vom Vollmond ausgeleuchteten Wohnzimmer einen schwarzen Nähfaden-Haufen – ein Überbleibsel einer neuen Masken-Näharbeit – mit einem Glas eingefangen, weil ich dachte, es handele sich um eine Spinne. Und nein, es hat nichts mit meiner Sehkraft zu tun, wenngleich diese tatsächlich etwas nachgelassen hat. Aber für eine Spinnensichtung war sie bisher immer noch ausreichend. Erfahrungsgemäß spielt die Dämmerung gerne ihre Streiche mit meiner Wahrnehmung. Jedenfalls dachte ich eines Abends, in meinem Garten ein Tier bemerkt zu haben. Schwarzes Fell. Mit etwas Weiß. Das Wesen regte sich nicht. Ich stand starr in der Haustür, der Hund hinter mir. Vom Nachmittag lag noch der Fotoapparat in der Fensterbank. Leise griff ich danach und pirschte mich an. Der Hund schlich mir nach. Er spürte offenbar, dass ein Abenteuer bevorstand. Das, was in meinen Augen ein Tier war, bewegte sich immer noch nicht. War es ein Maulwurf? Von einer Katze getötet und in meinem Garten abgelegt? Oder ein Marder? Igel mit weißer Beute unbestimmter Art schien auch möglich. Ich wollte unbedingt ein Foto. Deshalb bewegte ich mich sehr vorsichtig. Hund schnappt sich unerkanntes Objekt: Aber der Hund verlor die Geduld. Der Rüde stürzte sich also auf das Objekt, das er einwandfrei als Ziel des Abenteuers ausgemacht hatte, und griff es sich. Auch mit einem streng gerufenen „Aus!“ konnte ich ihn nicht stoppen. Mit stolzgeschwollener Brust und der Beute im Maul trabte er zwei Runden über den Rasen und kam schließlich in meine Richtung gelaufen. Meine Augen hatten sich inzwischen an das Licht der Dämmerung gewöhnt. Und manchmal braucht der Mensch ja nur einen anderen Blickwinkel, um die Dinge neu zu beurteilen. Mein Hund hatte keinen toten Maulwurf oder Marder apportiert. Auch keinen Igel mit weißer Beute. Ich war minutenlang über den Rasen geschlichen, um unseren Handfeger zu fotografieren. Info: Sie erreichen die Autorin unter E-Mail: autorin@anke-weber.de Instagram: https://www.instagram.com/ankeweber_author facebook: https://www.facebook.com/ankeweberautorin Von Anke Weber

„Mein Landleben“ - Kolumne: Streiche der Wahrnehmung