Nach Entlassung von Polizeipräsident Lührig: Innenministerium schweigt, Kritik wird lauter

Fest steht: Uwe Lührig ist seit Dienstag nicht mehr Polizeipräsident in Göttingen. Über die Gründe für seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand schweigt sich das niedersächsische Innenministerium auch am Mittwoch weiter aus. Ministeriumssprecherin Simone Schelk verweist stattdessen auf die Pressemitteilung vom Dienstag, in der eine Begründung für die plötzliche Entlassung des politischen Beamten Lührig aber fehlt. Drei Sätze widmen sich darin Lührigs Ruhestand. Wörtlich heißt es: „Die Niedersächsische Landesregierung hat heute die Zustimmung zur Versetzung des Präsidenten der Polizeidirektion Göttingen, Uwe Lührig, in den einstweiligen Ruhestand erteilt. Minister Pistorius hat Herrn Lührig persönlich über diesen Schritt zuvor informiert. Minister Pistorius hat sich für die geleisteten Dienste bedankt und Herrn Lührig für die Zukunft alles Gute gewünscht.“ Zuständig nach Paragraf 39 des Niedersächsischen Beamtengesetzes für die Versetzung eines politischen Beamten, wie es ein Polizeipräsident ist, ist die Landesregierung. Der Paragraf verweist auf die Regelungen in Paragraf 30 des Beamtenstatusgesetzes. Dort heißt es: „Beamtinnen auf Lebenszeit und Beamte auf Lebenszeit können jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden, wenn sie ein Amt bekleiden, bei dessen Ausübung sie in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen.“ Mögliche Gründe: Einen möglichen Grund für seine Entlassung hatte Lührig am Dienstag selbst ins Spiel gebracht. Wahrscheinlich sei, so Lührig, dass seine öffentliche Kritik an der Impfkampagne im Ministerium nicht gut angekommen sei. Gegenüber der Bild-Zeitung und dem Göttinger Tageblatt hatte sich Lührig zu Pannen und Datenchaos bei anstehenden Corona-Impfungen in seiner Familie ausgelassen. Gegenüber dem Tageblatt betonte Lührig ausdrücklich, dass er sich als Privatperson geäußert habe. Diese Kritik an der Arbeit der niedersächsischen Sozialministerin Cornelia Reimann (SPD) könnte, so vermuten es Mitglieder des Landtages, den CDU-Mann Lührig in den Blick von Innenminister Pistorius gebracht haben. Der NDR hatte unter Berufung auf Politikkreise zudem berichtet, dass Lührig vorgeworfen werde, für Fehler bei Ermittlungen im sogenannten Northeimer Missbrauchsskandal verantwortlich zu sein. Bei den Ermittlungen in Northeim ging es um zwei Männer, die in Verbindung zum Haupttäter der Missbrauchsserie auf dem Campingplatz in Lügde (Nordrhein-Westfalen) standen. Niedersachsens Polizeipräsident Axel Brockmann hatte der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung gegenüber Versäumnisse eingeräumt. Demnach erhielt die Polizei in Northeim schon im Frühjahr 2019 Hinweise auf mögliche Täter, ging diesen aber nicht nach. Zu einer Festnahme kam es erst ein Jahr später – im März 2020. Gegen den 49-Jährigen aus dem Landkreis Northeim läuft ein Strafverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Der zweite Tatverdächtige ist auf freiem Fuß. „Die Polizei hätte die Staatsanwaltschaft informieren müssen“, sagte Brockmann. Ebenfalls in Lührigs Göttinger Amtszeit fällt eine Datensammlung der Polizei zu mutmaßlichen Mitgliedern der linken Szene. Im Juni 2017 waren Vorwürfe gegen die Göttinger Polizei laut geworden: Danach sollte das Fachkommissariat Staatsschutz rechtswidrig eine Datensammlung von mutmaßlichen Mitgliedern der linken Szene angelegt haben. 24 Klageschriften wurden daraufhin beim Verwaltungsgericht Göttingen eingereicht. Nachdem schon im April 2018 die Vorwürfe in elf Klagen „aus rein formellen Gründen“ eingeräumt worden waren, hatte die Polizeidirektion Göttingen im Dezember mit gleicher Begründung die Rechtswidrigkeit in sieben weiteren Fällen anerkannt. Innenminister Pistorius nennt keine Gründe: Welche Rolle diese drei Vorgänge bei der Entlassung Lührigs spielten, ist allerdings offen. Doch angesichts des Schweigens von Boris Pistorius wird nun Kritik am Vorgehen des Innenministers laut. Lesen Sie auch Panne mit Impfbriefen: Göttinger Polizeipräsident erlebt privates Corona-Chaos Missbrauchsserie Lügde: Innenministerium räumt weitere Fehler ein Klagen gegen Göttinger Staatsschutz vor Verwaltungsgericht Güntzler: Es gärt in der niedersächsischen CDU: „Um den Spekulationen einen Riegel vorzuschieben und vor allem auszuschließen, dass Uwe Lührig wegen eines Statements zur niedersächsischen Impfkampagne über die politische Klinge springen musste, erwarte ich eine Stellungnahme seitens des Ministeriums. Minister Pistorius ist allein schon aus Gründen des Respekts und des Vertrauens gefragt, die Hintergründe für die Entlassung unseres Polizeipräsidenten offenzulegen“, sagt der Göttinger Bundestagsabgeordnete Fritz Güntzler (CDU). Die mehr als 2800 Beschäftigten bei der Polizeidirektion Göttingen hätten ein Recht, über die Gründe informiert zu werden, so Güntzler. Güntzler betont, dass auch Lührig als politischer Beamter ein Recht auf Meinungsfreiheit habe. Auch sei es nicht von der Hand zu weisen, dass es im von Cornelia Reimann (SPD) geführten Sozialministerium ein Missmanagement gebe. Gerade bei der Impfkampagne habe sich gezeigt, dass Reimann die Krise nicht im Griff habe. Güntzler berichtet, dass es wegen der Entscheidung um Polizeipräsident Lührig in der von SPD und CDU geführten Landesregierung bei den Christdemokraten intern gäre. Lührigs Entlassung sorge für großes Unverständnis, so Güntzler. Er selbst habe die Nachricht von der Entlassung Lührigs mit völligem Unverständnis zur Kenntnis genommen, sagte Güntzler. Er nannte Lührig kompetent, gradlinig und mit viel Weitsicht und Engagement. Kuhle: „Mögliche Pannen müssen aufgearbeitet werden“: Auch für den Bundestagsabgeordneten Konstantin Kuhle (FDP) wirft der Fall Lührig Fragen auf. Nachdem Beamte der Polizeiinspektion Northeim einem Hinweis des Jugendamtes auf sexuellen Missbrauch von Kindern fast ein Jahr lang nicht nachgegangen sein sollen, müsse dieser Fall lückenlos aufgeklärt werden, forderte Kuhle. Die zügige Weitergabe von Informationen zwischen den beteiligten Behörden sei beim Verdacht auf Kindesmissbrauch enorm wichtig, damit keine Spuren vernichtet würden. „Mögliche Pannen müssen aufgearbeitet werden. Die Absetzung von Uwe Lührig kann nur der Beginn der Aufarbeitung sein. Sie ersetzt nicht die Aufklärung der Hintergründe beim Northeimer Missbrauchsfall“, sagt Kuhle. Ihm erschließe sich nicht, warum hier erst jetzt eine Reaktion erfolge, obwohl das Innenministerium bereits seit mehr als einem Jahr einen Bericht zu diesen Pannen erarbeit hatte, der seit Mitte Dezember vorliege. Merkwürdig nennt Kuhle auch den zeitlichen Zusammenhang der Versetzung in den Ruhestand mit der scharfen Kritik Lührigs an der Organisation der Corona-Impfungen. „So problematisch es ist, wenn ein Vertreter der Polizei die Handlungsfähigkeit des Staates in Zweifel zieht, so ehrlich wäre es doch gewesen, wenn das niedersächsische Innenministerium die Gründe für die Entlassung umfassend dargestellt hätte“, so Kuhle. Und weiter: „Bei aller berechtigten Kritik: Für seine Arbeit an der Spitze der Polizeidirektion Göttingen gelten Uwe Lührig Dank und Anerkennung.“ Trittin wünscht Lührig-Nachfolgerin viel Erfolg: „Ich habe Uwe Lührig immer als konstruktiv erlebt. Ich bin sicher, dass dies mit der neuen Präsidentin Gwendolin von der Osten genauso der Fall sein wird. Ich gratuliere ihr herzlich und wünsche ihr viel Erfolg bei den herausfordernden Aufgaben“, kommentiert der Göttinger Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin Lührigs Entlassung. „Politische Beamte üben ihre Tätigkeit auf der Basis gegenseitigen Vertrauens aus. Wenn dieses Vertrauen zwischen der Landesregierung und Uwe Lührig nicht mehr gegeben war, ist die Versetzung in den Ruhestand ohne Angaben von Gründen der im Gesetz vorgesehene Weg.“ Kühne: „Südniedersachsen braucht eine starke Polizei“: Der Northeimer CDU-Bundestagsabgeordnete Roy Kühne hat Lührigs plötzliche Entlassung überrascht. Sie sei bedauerlich. Lührigs Nachfolgerin Gwendolin von der Osten wünscht Kühne einen guten Start. „Südniedersachsen braucht eine starke Polizei“, sagt Kühne. CDU und LKR sehen Lührig als Bauernopfer: Unverständnis und Kritik zum Fall Lührig gibt es auch im CDU-Stadtverband Göttingen. Dieser spricht von einem „politischen Bauernopfer des Innenministers“. „Sollte die Versetzung in den Ruhestand in irgendeinem Zusammenhang mit den Aussagen Lührigs über die äußerst schleppende Impfkampagne der Sozial- und Gesundheitsministerin stehen, ist dies in jedem Fall auf das Schärfste zu kritisieren. Nur weil ein politischer Beamter offenkundige Probleme und Versäumnisse anspricht, ist dies kein Grund für eine Entlassung aus dem aktiven Dienst“, sagte die Verbandsvorsitzende Carina Hermann. Sie kritisiert, dass offenbar versucht werde, Kritik an der Impfkampagne auszublenden. „Innenminister Pistorius sollte schnellstmöglich die Gründe für diese Entscheidung mitteilen“, sagte Hermann. Nicht nur fiele die „außerordentliche Erfahrung“ Lührigs weg, eine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand und die damit verbundene Nachbesetzung sei auch „mit nicht zu unterschätzenden Kosten“ verbunden. Diese Steuergelder würden an anderer Stelle dringender benötigt, so Hermann. Auch der Göttinger Kreisverband der Liberal-Konservativen Reformer (LKR) kritisiert den Umgang des Innenministers mit dem Göttinger Polizeipräsidenten Lührig. „Anstatt diese Krise in den Griff zu bekommen, werden hier wieder einmal Bauernopfer auf dem Altar der Meinungsfreiheit dargebracht“, sagte die LKR-Kreisvorsitzende Dana Guth (MdL). „Lührig hat als Dienstherr mit angemessenen Maßnahmen und einem klaren Blick auf die Sachlage seinen Beitrag zur Eindämmung des offensichtlichen Chaos geleistet. Anstatt aber die Verursacher dieser Krisenlage in die Pflicht zu nehmen, werden ausführende Organe zu Schuldigen erklärt.“ Polizeigewerkschaft: Lührigs Absetzung wirft Fragen auf: Für Patrick Seegers, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, wirft die Absetzung von Polizeipräsident Lührig mehr Fragen auf, als dass sie Antworten gibt. „Wir beteiligen uns hierbei nicht an der öffentlichen Spekulationsrunde, denn der gesamte Vorgang und seine Umstände sprechen dabei für sich“, erklärte Seegers. Seegers dankte Lührig für seine langjährige erfolgreiche Arbeit innerhalb der Polizei Niedersachsen. „Wir verlieren einen aufrichtigen und standfesten Kopf unserer Behörde.“ Gleichzeitig heißt Seegers die neue Polizeipräsidentin der Polizeidirektion Göttingen, Gwendolin von der Osten, in ihrem neuen Amt herzlich Willkommen. Von der Osten sei eine kompetente und durchsetzungsstarke Führungspersönlichkeit, die der Polizeidirektion gut zu Gesicht stehe. Seegers sagte, dass die Präsidenten der niedersächsischen Polizeidirektionen politische Beamte seien, aber gleichsam auch polizeiliche Führungsfiguren, „die sich im Spielfeld der Inneren Sicherheit bewegen - mitunter im Spagat“. Seegers mahnte aber an, dass sie unabhängig der Personalie Lührig Führungsfiguren seien, aber keinesfalls willkürlich austauschbare Spielfiguren. Von Michael Brakemeier / dpa