"Proud Boys"-Randale wegen Trumps Abwahl: Prophezeiung von Göttinger Professor tritt ein

Große Ungewissheiten bei der US-Präsidentschaftswahl: Stimmengültigkeit und insgesamt die Rechtmäßigkeit der Wahl werden von Donald Trump, seiner Partei den Republikanern und deren Anhängern stark angezweifelt – bis hin zu gewaltsamen Protesten. Das Tageblatt hat darüber mit Prof. Dr. Alexander Thiele gesprochen. Der Juraprofessor ist Privatdozent am Institut für Allgemeine Staatslehre der Universität Göttingen, Forschungsschwerpunkte des 41-Jährigen sind Demokratie und Staatstheorie. Herr Thiele, es ist Donnerstagnachmittag, bei der Wahl in den USA gibt es noch keine Entscheidung, aber einen Präsidenten Trump, der von Betrug zugunsten des demokratischen Kandidaten Biden spricht und Gerichte das Auszählen von Stimmen verhindern lassen will – was ist da los? Dass bei Wahlen in den USA Gerichte ins Spiel kommen, ist keine besondere oder negative Entwicklung. Die Wahl soll kontrolliert werden können und insofern sind auch Klagen Trumps gutes Recht. Für die Entscheidungen zuständig sind zunächst die Obersten Gerichtshöfe der Bundesstaaten, in letzter Konsequenz könnte er aber auch den Obersten Gerichtshof der USA, den Supreme Court in Washington, anrufen. Was ist da der Hintergrund? Das Wahlrecht in den einzelnen Bundesstaaten unterscheidet sich sehr, im Grunde finden 50 Einzelwahlen statt. Das US-Bundesrecht hat für die Präsidentschaftswahlen nur wenige und vage Bestimmungen, aber auch die müssen natürlich eingehalten werden. Gab es das schon? Dass der Supreme Court bei einer US-Präsidentschaftswahl eine Rolle gespielt hat, war zuletzt 2000 der Fall. Al Gore verlor damals gegen George W. Bush auch deswegen, weil der Supreme Court das erneute Nachzählen der Stimmen in Florida untersagte. Das Nachzählen bereitete deshalb so große Probleme, weil nicht klar war, ob eine Stimme gültig abgegeben war, wenn Geräte die Löcher in die Wahlkarten nicht vollständig gestanzt hatten. Die Frage war damals: „Is it a vote?“, in etwa „Ist das eine Stimmabgabe?“. Am Ende untersagte der Supreme Court ein nochmaliges Nachzählen und für Al Gore war das ein Nachteil, weil die Geräte tendenziell in den ärmeren Bundesstaaten – mit mehr Wählern der Demokraten – schlechter waren und daher mehr Stimmen vermutlich fehlerhaft für ungültig erklärt wurden. Und bei dieser Wahl? Im Kern geht es um die Frage, ob alle abgegebenen Stimmen gezählt werden sollen. Die Antwort müsste eigentlich ganz klar sein, nämlich: ja! Möglicherweise verkürzt der Supreme Court aber den Zeitraum in dem Briefwahlstimmen gezählt werden dürfen, die nach dem 3. November eingegangen sind. In den Bundesstaaten bestehen hier unterschiedliche Regeln, in Pennsylvania sind es etwa drei Tage. Warum ist das wichtig? Weil in den USA das Prinzip „The winner takes it all“ gilt – hat eine der beiden Parteien auch nur eine Stimme mehr als die andere, bekommt sie alle Wahlmänner des Bundesstaates. Die Richter am Supreme Court könnten deswegen die Wahl entscheiden, das ist extrem gefährlich für die Demokraten. Kommen wir zu einer gesellschaftlichen Komponente: Es gibt Berichte über teils bewaffnete Anhänger Trumps, die Wahllokale belagern und von vereinzelten, kleineren Scharmützeln. Ist die Wahl ein Katalysator für Unruhen? Viel wird darauf ankommen, wie Trump mit der möglichen, sehr knappen, Niederlage umgeht, wenn es wirklich dazu kommt. Wenn er sie nicht akzeptiert und weiter von Betrug und Diebstahl spricht, wird es weiter zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen, nicht zuletzt, weil Trump weiter die Autorität des Amtes hat. Denkbar ist sogar, dass Trump zu Unruhen anstiftet, beispielsweise in einem Nebensatz wie „haltet die mal ab vom Zählen“. Trump hat nicht zuletzt Einfluss auf rechtsextreme Gruppierungen wie die „Proud Boys“. Was ist Ihre Erklärung für die Gewaltbereitschaft? Die USA haben eine tief gespaltene Gesellschaft und für einen Teil bedeutet Biden Sozialismus, Gefahr und Katastrophe. Und wer nichts mehr zu verlieren hat, kann dann auch bereit sein, Gewalt auszuüben. Wie geht es weiter? Auch wenn er verliert, bleibt Trump bis zum 20. Januar Präsident. Dann würde Biden ins Amt eingeführt. Deutlich vorher, Mitte Dezember, geben die Wahlmänner des „Electoral College“, ihre Stimme ab. Hier stimmen sie üblicherweise entsprechend des Wahlausganges in ihrem Bundesstaat ab, sind letztlich aber frei in ihrer Entscheidung. Allein aus diesen beiden Punkten ergeben sich erhebliche Unwägbarkeiten: Trump könnte weiter Entscheidungen treffen, das Weiße Haus nicht verlassen und der neuen Regierung ganz praktisch Steine in den Weg legen – allein im Weißen Haus müssen ja mehrere hundert Menschen ihren Arbeitsplatz verlassen und neu beziehen, die brauchen Schlüssel, Passwörter und so weiter. Im besten Fall akzeptiert Trump also die Niederlage, wenn sie so kommt. Für wahrscheinlich halte ich das nicht, er hasst es bekanntlich zu verlieren. Und welche Niederlage wäre krachender, als die zweite Amtszeit als US-Präsident zu verpassen? Lesen Sie auch: Coronadiktatur? Göttinger Jurist Thiele sieht verfassungsrechtliches Problem Die Denationalisierung der Nationalstaaten Forscher aus Göttingen zur Möglichkeit eines Lockdown in Deutschland Von Steffen Kahl