Rätsel um Göttinger Belagerungsgemälde gelöst

Mehr als drei Jahrhunderte hat es gedauert, bis zwei für Göttingen bedeutende Gemälde mit Sorgfalt untersucht wurden und einiges Unbekannte erforscht werden konnte. Schon bald nach der Fertigstellung der beiden Stadtansichten mit Szenen von Belagerungen im Dreißigjährigen Krieg gerieten die Künstler und die Umstände der Herstellung in Vergessenheit. Der Göttinger Kunsthistoriker Thomas Appel hat die Geschichte der großformatigen Bilder erforscht. Sein Buch „Göttinger Stadtgeschichte im Bild. Die Belagerungen im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641“ schildert die Recherche und ihre Ergebnisse. „Man wusste überhaupt nichts über die Bilder“, erinnert sich Appel an die Situation im Jahr 2017. Er selbst hatte die beiden im Städtischen Museum ausgestellten Gemälde wohl registriert, aber als künstlerisch nicht bedeutsam beurteilt. Als Kenner der Göttinger Kunst- und Künstlergeschichte wurde Appel von Dr. Ernst Böhme, dem damaligen Leiter des Städtischen Museums, beauftragt, sich mit beiden Objekten wissenschaftlich zu befassen. „Absolute Oberklasse“: Inzwischen liegt eine Untersuchung von mehr als 100 Seiten vor. Die liest sich für stadt- und kunstgeschichtlich Interessierte spannend und zeigt auf, was der promovierte Kunsthistoriker Appel über die beiden „ältesten realistischen Stadtansichten Göttingens“ herausfinden konnte. Der Kunstkenner nennt die Gemälde, die beide ohne Signatur sind, hinsichtlich ihrer stadthistorischen Bedeutung „absolute Oberklasse“. Die Gemälde zeigen Szenen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Im Juni 1626 belagerte der Feldherr Johann T‘Serclaes von Tilly mit seinen Truppen Göttingen. Dieses Ereignis hat der Künstler auf einer 148 mal 248 Zentimeter großen Leinwand ebenso festgehalten wie Geschehnisse einige Wochen zuvor, die für die Region und die Stadt ebensolche Unglücke waren: Die Brandschatzungen der Dörfer Nörten und Weende sowie der Klöster in Weende und Nikolausberg durch die Truppen Wallensteins im Februar 1626 und die Explosion des Göttinger Pulverturms an der Kurzen Straße am 28. April 1626 durch Blitzschlag. Noch mehr Platz, um Stadt und Umgebung detailliert darzustellen, bot die 138 mal 380 Zentimeter große Leinwand dem Künstler des Ölgemäldes, das die Belagerung Göttingens durch Octavio Piccolomini im Jahr 1641 darstellt. Auch hier wird das militärische Geschehen abgebildet. Heerlager und Reitergruppen sind zu sehen, über der detaillierten Stadtsilhouette Feuerschweife – und ein Regenbogen. Am 6. November 1641 wurde die Belagerung abgebrochen. Bewohner hatten Glück im Unglück: „Göttingen war vor einer Katastrophe bewahrt worden. Zu beklagen waren zwar etliche durch Granatenbeschuss zerstörte Häuser; die Bewohner hatten jedoch Glück im Unglück, da die Stadt von einer Feuersbrunst verschont blieb. Ein Regenbogen, der sich am Ende der Belagerung über der Stadt auftat, muss den Göttingern wie ein göttliches Zeichen der Erlösung und Befreiung erschienen sein“, erklärt Appel in dem Kapitel über den historischen Hintergrund der Belagerung Göttingens von 1641. Beide Gemälde, so war es im Bestand des Städtischen Museums verzeichnet, stammten aus dem Alten Rathaus. Ein Hinweis auf städtischen Besitz, der den Kunsthistoriker vermuten ließ, dass sich im Kämmereiregister der Stadt etwas über die Anschaffung finden lassen sollte. So stellte es sich auch heraus, aber die Buchhaltung vermerkte erst etliche Jahre nach 1626 Zahlungen für ein Gemälde. Zeitaufwändige Recherche: Aber die Darstellung der Ereignisse im Jahr 1626 hatte Appel gemeinsam mit Dr. Sigrid Dahmen vom Stadtarchiv Göttingen veranlasst, die Bücher der Stadt Göttingen ab 1626 auf Hinweise zu durchforsten. „Fast ein halbes Jahr“, so Appel, suchten sie vergeblich: „Es war frustrierend, weil wir über einen langen Zeitraum nichts gefunden haben.“ In den Büchern des Jahres 1644 dann ein Vermerk: eine erste Ratenzahlung an den Maler Daniel Münch registriert am 12. Dezember – für das Gemälde mit der Darstellung der Piccolomini-Belagerung von 1641. Das Gemälde ohne Signatur konnte so dem Göttinger Kunstmaler Daniel Münch (um 1580-1645) zugeordnet werden. „Im Kämmereiregister wird er als Herr bezeichnet. Aha, das muss ein Ratsherr gewesen sein“, sagt Appel. Er hat über Münch, über dessen Tätigkeit bisher kaum etwas bekannt war, herausgefunden, dass dieser Auftragsarbeiten für die Stadt und die Kirchen in Stadt und Region erledigte. „Dankbarkeit über die Errettung“: Das Belagerungsbild von 1641 wertet Appel als Ereignisbild, denn der Maler „war am Geschehen als Ratsherr und Göttinger beteiligt“. Sein Auftrag war es, ein Gemälde zu schaffen, „aus Dankbarkeit über die Errettung aus einer lebensbedrohlichen, katastrophalen Situation.“ Daniel Münch schuf eine Art Votivbild und dieses für einen bestimmten Platz in der Ratsstube des Alten Rathauses, so dass die Größe der Wand die Maße des Gemäldes mit bestimmte. Auch für die zweite Stadtansicht, die Ereignisse des Jahres 1626 zeigen sollte, war in der Ratsstube eine Wand vorgesehen mit etwas weniger Platz. Herauszufinden, dass dieses Gemäldes wohl erst in den Jahren 1645/46 angefertigt wurde und dann erst 35 Jahre später in den Büchern der Stadt vermerkt wurde, „war eine harte Nuss zu knacken“, meint Appel heute. Sehr wahrscheinlich stammt es von Justus Münch (um 1620-1679/80), der als Sohn und Lehrling von Daniel Münch wohl an dem 1641-Gemälde mitwirkte. Gemälde mit unterschiedlicher Botschaft: Der Kunsthistoriker geht davon aus, dass Justus Münch nach dem Tod des Vaters den Auftrag übernahm, die Belagerung des Jahres 1626 im Bild festzuhalten. „Dieses Bild hat eine ganz andere Bedeutung als das erste Gemälde. Die Vanitas-Symbolik steht für eine andere Botschaft“, erklärt Kunsthistoriker Appel. Die Sanduhr und zwei Engel mit den Symbolen von Frühling und Sommer sowie mit brennender und erloschener Fackel im rechten Eck des Gemäldes weisen darauf hin, dass die Darstellung dazu ermahnt, die Folgen von Krieg und Pest zu überwinden. Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 verwüstete Europa und ruinierte auch die Stadt Göttingen. Die Schlachten der Heere sollten die alte Glaubensordnung wieder durchsetzen – gegen den Protestantismus, für den Katholizismus. Die Bürgerschaft Göttingens setzte nach der Reformation durch Martin Luther ab 1529 auf die evangelische Kirchenordnung, die ab Palmsonntag 1530 von den Kanzeln aller Stadtkirchen verkündet worden war. 1626 kamen die kaiserlichen Heere nach Göttingen. Die Feldherren Wallenstein und Tilly verwüsteten mit ihren Truppen die Tuchmacherstadt und die umliegenden Orte. Sechs Jahre dauerte die Belagerung. Nach 1632 erfolgte die letzte Belagerung im Jahr 1641. Diese führte der kaiserliche General Octavio Piccolomini an, der am 6. November 1641 die Belagerung abbrach. Die Kriegsereignisse von 1626 und 1641 wurden im Auftrag des Rates der Stadt Göttingen auf großformatigen Gemälden dargestellt, die für die Ratsstube im Alten Rathaus angefertigt wurden und heute im Städtischen Museum Göttingen zu sehen sind. Und die Botschaft der Bilder, die beide nahezu 250 Jahre im Sitzungssaal des Rates im Alten Rathaus hingen, richtete sich an die Mitglieder des Göttinger Rates. Der Öffentlichkeit waren die Gemälde, bis sie für kurze Zeit 1893 in die Städtische Altertumssammlung wechselten und inzwischen seit 1972 im Städtischen Museum zu sehen sind, lange Zeit nicht zugänglich. Göttinger Maler entdeckt: Kunsthistoriker Appel hat mit seinem Buch über die Gemälde auch die Göttinger Stadtgeschichte zur Zeit des Konfessionskrieges im 17. Jahrhundert sowie seine Folgen beschrieben. Die Recherche hat zudem über beide Künstler Münch bisher Unbekanntes ergeben. Unter anderem sind Justus Münch auch zwei Gemälde in der Albani-Kirche zuzuschreiben. Und von Daniel Münch ist im Städtischen Museum das Gemälde „Heilige Familie“ erhalten sowie in der Mündener Blasius-Kirche ein Apostel-Zyklus. Die einst fürs Alte Rathaus angefertigten Münch-Gemälde sind nach Ansicht von Appel hinsichtlich ihrer Anbringung in der Ratsstube „weltweit singulär“. Belagerungsbilder, die andere Städte in ähnlicher Situation im Dreißigjährigen Krieg zeigen, sind rar. Ob Überlingen oder Lindau, Nürnberg oder Brünn – immer sind es Stadtansichten, die nach einer erfolglosen Belagerung entstanden als Ausdruck des Dankes und der Erlösung einer Stadt. Das die Göttinger Situation von 1626 abbildende „Belagerungsgemälde steht in der Historienmalerei völlig singulär da“, urteilt Appel. Der Göttinger Rat habe damit ein Ereignis „in Szene setzen lassen, mit dem die Stadt tief gedemütigt wurde, das sie in den wirtschaftlichen Ruin führte, sie zerstörte, zum Konfessionswechsel zwang und das zahlreiche Menschenleben forderte.“ Die kunsthistorische Untersuchung von Thomas Appel ist im Göttinger Wallstein Verlag erschienen: „Göttinger Stadtgeschichte im Bild. Die Belagerungen im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641“, 103 Seiten, 14 Euro. Von Angela Brünjes