St. Marien in Göttingen: Kirchengeschichten zum Hören und Fühlen

Die Kirchengemeinde St. Marien in Göttingen stellt ihr „begehbares Hörspiel“ vor. Mithilfe einer Smartphone-App können Besucher die Kirche und das Gelände von St. Marien besichtigen und gleichzeitig Geschichten anhören. Das Hörspiel geht auf die Historie der Kirche, die 1290 gegründet wurde, ein. Der Kabenchor darf am Weihnachtsfest nicht singen, die Hälfte der Sitzbänke ist gesperrt, es ist still in St. Marien in diesem Advent. Pastor Markus Wackernagel und der Kirchenvorstand wollten etwas gegen diese Stille tun. Gemeinsam mit Künstlern aus Hamburg und Berlin haben sie ein begehbares Hörspiel entwickelt. 600 Jahre – neun Stationen – drei Menschen: „Für mich war das Hörspiel in seiner Entstehung so bereichernd, weil ich selber so viel dabei gelernt habe. Ganz vieles, was sich hier um die Kirche zugetragen hat, war mir nicht ansatzweise bekannt“, erzählt Dr. Anette Gräff als Projektbetreuerin des Kirchenvorstandes St. Marien. Das „Begehbare Hörspiel“ von St. Marien umfasst 600 Jahre Geschichte und neun Hörstationen in und um die Kirche in der Göttinger Neustadt. Der Ausgangspunkt des Projektes war die ereignisreiche Geschichte der Kirche einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Die Aktiven entschieden sich gegen Infotafeln und Broschüren. Das Ziel war, die Geschichte nahbar und erlebbar zu gestalten. Über einen persönlichen Kontakt fand der Kirchenvorstand von St. Marien zu Nico Czaja. Dieser hatte bereits Erfahrung mit Hörführern oder Audioguides, die bereits oft in großen Museen verwendet werden. Realität als Bühne: „Ich finde Audioguides besonders faszinierend, weil man die Realität quasi als Bühne benutzt. Und in der Vorstellungskraft der Leute, die etwas hören aber gleichzeitig die Augen noch frei haben, um sich die Umgebung anzugucken“, sagt Audio-Dramaturg Czaja über die Umsetzung des Hörspiels. Neun Stationen, drei Epochen und drei Protagonisten. Die vom Schauspieler Jan Uplegger erzählten Geschichten spielen im Mittelalter, während der Reformation und sowohl während als auch nach der Zeit des Nationalsozialismus. Die Geschichte von St. Marien als Kirchengemeinde wird verknüpft mit Umwälzungen, die ganz Deutschland betreffen. Im Mittelalter wird die Geschichte von Gero erzählt, dem Sohn eines Gildenoberen der Wollenwebergilde. Im 16. Jahrhundert geht es um den Priester Heinrich Kitzbühl, der durch die Ankunft der Reformation in Göttingen seine Gemeinde verliert. Die Zeit des Nationalsozialismus erlebt das Mädchen Greta, die miterlebt wie der jüdischstämmige Pastor Bruno Benfey erst vertrieben wird und nach Kriegsende in seine Gemeinde zurückkehrt. Die Geschichten befänden sich stets im Spannungsfeld zwischen historischer Genauigkeit und nahbarer Erzählung, so Autor Czaja. Pastor Heinrich Kitzleben und Pastor Bruno Benfey hätte es neben anderen Figuren in der Geschichte von St. Marien wirklich gegeben, sagt Gräff vom Kirchenvorstand. Die Figuren Gero und Greta wären fiktiv, der geschichtliche Kontext um sie herum jedoch nicht. „Die Figuren sind von Herrn Czaja sozusagen ausgemalt worden für diese Geschichten“, so Gräff. Das Hörspiel ist über die „Kirchen-App“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) abrufbar. Diese gibt es also Android- und iOS-Version. Außerdem ist es im Webbrowser abrufbar unter https://ekd.kirchenlandkarte.de/655/. Als Erstes lädt man die Smartphone-App aus dem App-Store des Anbieters herunter, dann zeigt die App nach dem Öffnen eine Landkarte an. Auf dieser sucht man nach Göttingen, dann weiter nach St. Marien. Wenn man auf den Pin beziehungsweise das Info-Symbol drückt, öffnet sich eine Übersicht. Rechts oben erscheint ein Kopfhörer-Symbol. Damit gelangt man zu einer Übersichtskarte der Hörstationen. Jede Station kann man über einen Pin auswählen oder auch der Reihenfolge nach durchhören. So ist es möglich sich im Raum und Freien zu bewegen und sich durch die Geschichten in eine andere Zeit versetzen zu lassen. Die Kirche St. Marien ist von 9 bis 18 Uhr für den Besuch geöffnet. „Es ist der 18. November 1936. Greta Nolte hält die Hand von Inge Meierhoff auf der einen und die von Eva Ebrecht auf der anderen Seite. Beide Mädchen halten Gretas Hände sehr fest. Ob aus Angst oder Entschlossenheit weiß Greta nicht. Inge trägt ein Schild um den Hals auf dem steht: Juda verrecke! Sie hat es selbst geschrieben, in der mühsamen Schnörkelschrift, die sie so mag. Inge ist Gretas beste Freundin. Gestern haben sie um diese Zeit Liebesgedichte gelesen. Else Lasker-Schüler, heimlich. In einem Winkel hinter den Mülltonnen, am Ende des Alte-Wollenweber-Wegs.“ So beginnt die erste Station von Gretas Reise am Nordportal von St. Marien. Von Stefanie Grolig