Täglich mehr als ein rechtsextremer Vorfall in Südniedersachsen

Jeden Tag im Durchschnitt mehr als einen rechtsextremen Vorfall im südlichen Niedersachsen und im nordwestlichen Thüringen: Das ist das Ergebnis einer Sammlung des Vereins „Antifaschistisches Bildungszentrum und Archiv Göttingen“ (ABAG) für das Jahr 2019. 404 rechte Aktivitäten in den niedersächsischen Landkreisen Göttingen und Northeim sowie dem Eichsfeldkreis in Thüringen listet die jetzt veröffentlichte Chronik für das zurückliegende Jahr auf. Die Bandbreite der in der Chronik aufgelisteten Aktivitäten reicht von Treffen der AfD-Kreisverbände Göttingen und Northeim über verklebte Aufkleber der g mit rechter Propaganda etwa der Identitären Bewegung und Hakenkreuzschmierereien bis hinzu Bedrohungen von Journalisten und Körperverletzungen. Das Archiv hat für seine erste Jahreschronik überhaupt unter anderem örtliche Medien ausgewertet, Zeugen befragt und weitere eigene Recherchen vorgenommen. „Um die Gefahr durch Neonazis fundiert einschätzen zu können, brauchen wir belastbare Zahlen“, erklärte Chiara Monti, Mitglied des Göttinger Archives. „Dazu dokumentieren wir selbst extrem rechte Aktivitäten und rufen dazu auf, uns ebenfalls extrem rechte Vorfälle zu melden. Leider müssen wir davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch weitaus höher ist.“ Die Vorfälle machten aber deutlich, so Damian Ott und Simeon Dettmar in ihrer Analyse, welche inhaltlichen Themenschwerpunkte die extreme Rechte in den verschiedenen Orten setzten und wie sie lokal agierten. Treffen, Hakenkreuze, Körperverletzungen: Die häufigsten extrem rechten Aktivitäten seien 2019 rassistisch motivierte Propagandadelikte sowie Propaganda gegen vermeintlich linke und zivilgesellschaftlich organisierte Personen gewesen. Der mit knapp 68 Prozent überwiegende Teil der dokumentierten Aktivitäten seien im Bereich rechter Propaganda zu verorten. „Das umfasst sowohl Aufkleber als auch Schmierereien, die im öffentlichen Raum angebracht wurden“, so Ott und Dettmar. Lesen Sie auch: „Aryan Circle Germany“: Razzia gegen Neonazis – Polizei durchsucht Wohnung in Staufenberg Schwerpunkte rechtsextremer Aktivitäten waren nach Auswertung des ABAG im vergangenen Jahr in Südniedersachsen Einbeck und Göttingen. „Insbesondere in Einbeck ist eine konstant hohe Bedrohungslage für politisch Andersdenkende zu verzeichnen“, hieß es. Dort hätten Neonazis im April Menschen mit dem Auto verfolgt oder sie nach Demonstrationen durch die Stadt gejagt. Das Denkmal der Alten Synagoge sei mit antisemitischen Parolen beschmiert worden, neonazistische Propaganda sei in den Straßen zu finden. 2020 hatte die Polizei im April mehrere Häuser von Rechtsextremisten in Einbeck durchsucht und dabei auch Waffen beschlagnahmt. Einbecker Neonazis und der Verfassungsschutz: Die nach eigenen Angaben inzwischen aufgelöste Kameradschaft Einbeck fand bereits 2018 Erwähnung im niedersächsischen Verfassungschutzbericht. Diese weise, anders als die „Neonaziszene Göttingen“ wegen ihrer Internetpräsenzen und des Tragens einheitlicher T-Shirts auch „formale Strukturen auf, die durch das öffentliche Auftreten der Kameradschaftsangehörigen auf örtlicher Ebene untermauert werden“, urteilt der Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutz nennt eine versuchte Störung einer Seebrücke-Veranstaltung und eine Spontankundgebung von 25 Rechtsextremisten vor einem Einbecker Lokal, in dem eine Informationsveranstaltung über die regionale rechtsextremistische Szene stattfand. Unter den Demonstranten waren laut Verfassungsschutz auch Mitglieder der „Kameradschaft Einbeck“ sowie Neonazis aus dem Harz und ehemalige Angehörige der Gruppierung „Volksbewegung Niedersachsen“. Einige ihrer Mitglieder sind derzeit im neu gegründeten Kreisverband der Partei „Die Rechte“ aktiv. Bei diesen Bildern wird uns schlecht! Das Denkmal mit einem Hakenkreuz und antisemitischen Sprüchen zu beschmieren ist... Gepostet von Seebrücke Einbeck am Freitag, 24. Mai 2019 Nasenbeinbruch in Göttingen: In Göttingen verzeichnete das ABAG für 2019 nach eigenen Angaben mehrere offenbar rechtsextrem motivierte Anschläge und Sachbeschädigungen rund um den Universitätscampus. Betroffen gewesen seien vor allem studentische Wohnprojekte und Gebäude der Hochschule. Die Täter hätten Bremszüge von Fahrrädern durchschnitten, vielfach den Nationalsozialismus verherrlichende Parolen gesprüht und in einem Fall einen Brandanschlag im Garten eines von linksgerichteten Studenten verübt. Ein Höhepunkt sei der Angriff auf zwei Besucher einer Kneipe gewesen: „Einem Betroffenen brachen die extrem rechten Angreifer die Nase“, heißt es in einer Mitteilung. Lesen Sie auch: Rechtsextremismus: Göttinger Neonazis versuchen, in der Stadt Fuß zu fassen Es werde deutlich, so Ott und Dettmar, dass auch in Göttingen extrem rechte Aktivitäten kontinuierlich stattfänden. Das stehe im Widerspruch zum Selbstbild einer „‚bunten‘ und ‚weltoffenen‘“ Stadt. Einzig die Identitäre Bewegung versuche als einzige Gruppierung, Personen gezielt mit Flyern zum Mitmachen zu bewegen. Sonst dominierten im gesamten Beobachtungsraum Aktivitäten mit einem eindeutigen NS-Bezug, „sei es durch Hakenkreuz-Schmierereien oder das Verkleben von neonazistischem Propaganda-Material“, schildern Ott und Dettmar. Für 2019 zieht das ABAG folgendes Fazit: „Die Ergebnisse der Chronik zeigen die hohe Aktivität extrem rechter Akteurinnen auch in der Region Südniedersachsen auf. Besonders besorgniserregend sind die regelmäßig stattfindenden Bedrohungen und Beleidigungen in Einbeck sowie die zum Teil schweren Sachbeschädigungen und Körperverletzungen in Göttingen. Die extreme Rechte ist, auch in Südniedersachsen, immer noch eine unterschätzte Gefahr“, erklärt Monti. Januar: Unbekannte sprühen die Parole „Tod der ZOG“ auf ein Universitätsgebäude in der Goßlerstraße. „ZOG“ soll dabei für „Zionist Occupied Government“ stehen und sei somit ein Slogan für die „wahnhaft antisemitische Idee einer jüdischen Weltverschwörung“. (24. Januar) Februar: In den frühen Morgenstunden soll eine Gruppe Neonazis die Göttinger Kneipe Salamanca betreten. Mindestens zwei der Personen hätten Quarz-Handschuhe getragen. Die Gruppe soll eine Mitarbeiterin der Kneipe und Kneipengäste homophob beleidigt haben und anschließend erfolgreich des Ladens verwiesen worden sein. Die rechten Aktivist sollen nun die Kneipe S-Bar aufgesucht haben. Dort hätten sie zwei anwesende Gäste bedroht und mit Bezug auf das Konzentrationslager „Auschwitz“ eingeschüchtert haben. (13. Februar) März: Am Nachmittag halten 18 Neonazis eine Kundgebung in Göttingen-Geismar unter dem Motto „Antideutsche Hetze beim Namen nennen“ ab. Als Anmelder tritt der Neonazi Jens Wilke auf. An der Veranstaltung sollen auch Neonazis aus der Partei „Die Rechte“ und aus den Regionen Einbeck und Goslar teil. (18. März) April: Auf einem Universitätsgebäude in der Goßlerstraße sprühen Unbekannte „Brenton Tarrant [Attentäter von Christchurch] did nothing wrong“ sowie mehrere Runen. (3. April) Mai: In Leinefelde findet der als NPD-Wahlkampfabschlusskundgebung angemeldete Eichsfeldtag statt. Es nehmen ungefähr 130 Personen an dem Event teil. Als Redner treten unter anderem Thorsten Heise und Udo Voigt auf. Es spielt die Rechtsrockbands „Oidoxie“, deren Mitglieder Verbindungen ins rechtsterroristische Netzwerk „Combat 18“ haben sollen. (18. Mai) Juni: Die Kameradschaft Einbeck veranstaltet in Northeim am Bergbad eine Kundgebung unter dem Motto: „Es reicht. Schluss mit Gewalt gegen Deutsche“. (29. Juni) Juli: Vor der Privatwohnung eines Journalisten halten sich in Göttingen tagsüber zwei Neonazis aus dem Landkreis Göttingen sowie Einbeck auf. Auf Twitter postet einer der beiden ein Foto mit der Aussage: „Passt auf euch auf“ (Zwinkersmiley) und „#naziwatchgoe“. (17. Juli) August: In der Goßlerstraße sollen Unbekannte erneut Neonazi-Graffiti auf ein Universitätsgebäude „FREE TARANT“, „FREE CRUSIUS“, „FREE BREIVIK“ und „RACE WAR NOW“ gesprüht haben. Es fände sich an dem Gebäude außerdem ein Hakenkreuz und die Botschaft „RASSENKRIEG“, schreibt das ABAG. (6. August) September: Die Kameradschaft Einbeck führt einen Aufmarsch in Einbeck durch. Unter den TeilnehmerInnen seien Aktivisten aus dem Umfeld der örtlichen Kameradschaft, aus dem Umfeld der NPD Eichsfeld sowie JN- und NPD-Aktivisten aus dem Großraum Goslar. Auch von der Partei Die Rechte seien Akteuren zugegen, beobachtete das ABAG. (14. September) Oktober: Gegen 3 Uhr nachts sollen Unbekannte Feuer im Garten eines linken Hausprojekts in der Goßlerstraße gelegt haben. Das Feuer sei noch rechtzeitig vor dem Übergreifen auf weitere Areale des Grundstücks gelöscht worden. (28. Oktober) November: Drei Neonazis der Kameradschaft Einbeck nehmen an einer Führung der KZ-Gedenkstätte in Moringen teil. Während der Führung stellen sie die Glaubwürdigkeit der Opfer grundsätzlich infrage. Nach der Führung machen die Neonazis ein Foto mit nach oben gestreckten Daumen vor der Gedenkstätte. Für das Foto haben zwei ihre Jacken geöffnet. Auf einem T-Shirt von steht in Frakturschrift „Zensiert!“ in einem weißen Kreis auf rotem Hintergrund. Das Shirt erinnert an eine Hakenkreuz-Fahne. Auf einem anderen steht „Fuck you Israel“ mit einem durchgestrichenen Davidstern. (12. November) Dezember: Die Kameradschaft Einbeck veranstaltet in Moringen eine Kundgebung unter dem Motto: „Schluss mit Hexenjagd und Pressehetze“ statt. Die Veranstaltung besuchen sieben Teilnehmende. (4. Dezember) Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität im Mai: Der Polizei Göttingen liegen für 2019 aktuell noch keine Fallzahlen für politisch motivierte Kriminalität (PMK) vor. Nach Auskunft von Inspektionssprecherin Jasmin Kaatz werde Innenminister Boris Pistorius (SPD) die landesweiten „PMK-Fallzahlen 2019“ vermutlich im Mai präsentieren. Erst danach dürften „die nachgeordneten Behörden mit ihren eigenen Statistiken an die Öffentlichkeit gehen“, erläutert Kaatz. Tanja Kurth-Koch, Sprecherin der Polizeidirektion Göttingen nennt aber Zahlen für das „Jahreslagebild politisch motivierte Kriminalität 2018“ im Zuständigkeitsbereich der Polizeiinspektion Göttingen. Danach stieg die Zahl der Straftaten von Rechts von 54 im Jahr 2017 auf 83 Straftaten an. Im gleichen Zeitraum stiegen laut Koch auch die Straftaten von Links: von 71 auf 94. Im Bereich der Polizeiinspektion Northeim / Osterode sei hingegen ein Rückgang der Zahlen festzustellen. Hier habe es 2017 von rechts 52 Straftaten gegeben. 2018 waren es 30. Linke Straftaten seien von 15 auf sieben zurückgegangen. Für das in diesem Zuständigkeitsbereich liegende Kommissariat in Einbeck sei eine „differenzierte Veröffentlichung von Fallzahlen“ nicht vorgesehen, erläutert Koch. Der eingetragene Verein „Antifaschistisches Bildungszentrum und Archiv Göttingen“ (ABAG) sieht es als seine Aufgabe, „generell über Ausprägungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aufzuklären und die aktuellen wie auch zeithistorischen Praxen der extremen Rechten in der Region zu dokumentieren“, heißt es auf der ABAG-Internetseite. Die extreme Rechte sei in der Bundesrepublik „eine andauernde Gefahr für eine offene, soziale und demokratische Gesellschaft“. Die verschiedenen Strömungen und Akteure der extremen Rechten seien auch in Südostniedersachsen und Nordthüringen teils seit Jahrzehnten aktiv – von Neonazi-Gruppierungen und Parteien, die Neue Rechte, Reichsbürger über extrem rechte Studentenverbindungen bis zu völkisch geprägten Rechtspopulisten und religiös-fundamentalistischen Vereinen. Das ABAG dokumentiert rechtsextreme Aktivitäten in der Region, vermittelt Referenten an Bildungsträger, Gewerkschaften, Parteien und Bürgerinitiativen und organisiert eigene Veranstaltungen. Das Archiv kann auch von Journalisten und Wissenschaftlern genutzt werden. Sie erreichen den Autor unter: E-Mail: m.brakemeier@goettinger-tageblatt.de Twitter: @soulmib Von Michael Brakemeier mit EPD

Rechter Rand - Täglich mehr als ein rechter Vorfall in Südniedersachsen