Tageblatt-Interview mit dem Intendanten des Deutschen Theater in Göttingen über Israel-Kritik und Antisemitismus

Einen differenzierten Austausch möchte Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theaters in Göttingen, mit der Podiumsdiskussion „Antisemitismus oder berechtigte Kritik an Israel? Wo verläuft die Grenze?“ ermöglichen. Am Freitag, 17. Januar, diskutieren darüber Iris Hefets, Vorstandsmitglied „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, und Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, mit drei Bundespolitikern im Deutschen Theater ab 17 Uhr. Sidler erläutert im Tageblatt-Interview, weshalb er Diskussionsbedarf sieht. Wie kommt es zu dieser Veranstaltung, die ja offensichtlich die Gemüter in Erregung versetzt? Anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises, kam es zu Vorwürfen des Antisemitismus gegen die Preisträgerin „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Die Stadt und die Uni haben sich aufgrund des Druckes zurückgezogen. Der Preis wurde trotzdem verliehen. Stimmen mehrten sich, öffentlich über Antisemitismus und der Abgrenzung zu Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu sprechen. Das Deutsche Theater nimmt die gesellschaftliche Aufgabe wahr, ein Forum zu bieten, um diesen Vorwurf zu differenzieren, damit Haltungen der Konfliktparteien nachvollziehbar und transparent werden. Wie sind Sie vorgegangen? Als Theater suchen wir den gesellschaftlichen Diskurs, um Antisemitismus im Bezug auf die Wahrnehmung israelischer Regierungspolitik zu thematisieren, nicht die Reflexion parteipolitischer Haltungen dazu. Mein Bestreben war es, ein Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland zu gewinnen, denn von da kam die massive Kritik, um mit Frau Hefets von der Jüdischen Stimme offen auf der Bühne über diese Frage zu debattieren. Aber ein Vertreter des Zentralrates kommt nicht. Warum? Vielleicht weil die Zeit noch nicht reif ist? Der Vorsitzende des Zentralrats, Herr Josef Schuster hat abgesagt, als ich klar machte, dass es sich beim Gegenüber um die ‚jüdische Stimme’ handelt. Nach Telefongesprächen oder Brief- und Mail-Kontakten mit einigen Mitgliedern des Zentralrates haben daraufhin alle ausrichten lassen, dass sie nicht zur Verfügung stehen. Zusammen mit Frau Hefets wird nun Herr Dr. Mendel, ebenfalls ein jüdischer Intellektueller, auf dem Podium sitzen, der auch in Israel geboren und aufgewachsen ist, in der Armee gedient hat und nun die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main leitet. Mendel hat 2017 in Frankfurt den Beschluss, dort Vertreter der Bewegung BDS, was für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen steht, aus städtischen Einrichtungen auszusperren, als „starkes Signal gegen Judenhass und israelbezogenen Antisemitismus“ eingestuft hat. Hefets und Mendel bringen Haltungen gegenüber dem Nahost-Konflikt mit, die geprägt sind vom Erleben einer Heimat, die im Dauerkriegszustand ist. Für mich ist diese Unmittelbarkeit essenziell, denn in Mitteleuropa wird zu oft geurteilt, ohne zu wissen, wie sich das anfühlt. Mich hat die deutsch-israelische Künstlerin Nirit Sommerfeld mit ihrer Laudatio für die „Jüdische Stimme“ beeindruckt: „Deutsche zeigen mit dem Finger auf Juden und bezichtigen sie des Antisemitismus! Wie absurd, wie anmaßend, im Jahre 2019!“ Deshalb haben Sie das Podium dann doch um Politiker erweitert? Die FDP hat sich anlässlich der Verleihung des Friedenspreises wie der Zentralrat mit heftigen Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Preisträgerin positioniert. Herr Kuhle von der FDP wird diese Haltung persönlich erläutern. Als Gegenüber ist Herr Jürgen Trittin unserer Einladung gefolgt, der in der Nahost-Frage für eine klare Position steht. Als Vertreter der Zweistaaten-Lösung wird er die Anliegen der „Jüdischen Stimme“ ganz anderes bewerten. Als Vermittlerin und Instanz mit hohem Ansehen wird die Bundestagspräsidentin a. D. Frau Rita Süssmuth mitreden. A. D., also außer Dienst, haben wir bewusst gewählt mit der Hoffnung, dass sie dadurch die Möglichkeit hat, Dinge zu benennen, die eine Politikerin in Amt und Würden so eventuell nicht sagen würde. Verbrennt man sich nicht zwangsläufig die Finger an einem solchen Unterfangen? Mag sein. Ist es vermeidbar? Im Sinne des Theaters als Denkraum, als Freiraum suche ich dringend nach differenzierter Auseinandersetzung mit den uns wichtigen Themen. Infotainment, Populismus, Social Media verkürzen die Wirklichkeit: Ich kämpfe für einen fundierten Diskurs. Der Diskussion „Antisemitismus oder berechtigte Kritik an Israel? Wo verläuft die Grenze?“ folgt die Vorstellung von Wajdi Mouawads „Vögel“. Auch in diesem Theaterstück des 1968 geborenen libanesisch-kanadischen Autors geht es um die „historische Komplexität des Nahostkonfliktes und den hohen emotionalen Hürden, die einem dauerhaften Frieden im Weg stehen“, teilt das Deutsche Theater mit. Dort hatte „Vögel“, inszeniert von Katharina Ramser, am 21. September 2019 Premiere. Sie habe, so die Tageblatt-Rezension, „die Geschichte und die Verstrickungen des Figurentableus überaus präzise und konzentriert ausgebreitet“. Für die Vorstellung am Freitag, 17. Januar, ab 19.45 Uhr sind noch wenige Eintrittskarten erhältlich. Für die Podiumsdiskussion „Antisemitismus oder berechtigte Kritik an Israel? Wo verläuft die Grenze?“ab 17 Uhr im DT-1 des Deutschen Theaters, Theaterplatz 11, ist der Eintritt frei. Wer sich einen Platz sichern will, erhält kostenlose Zählkarten nur an der DT-Kasse. Lesen Sie auch: Ankündigung der Podiumsdiskussion mit Statements von Iris Hefets und Meron Mendel. Podiumsdiskussion im November 2019 in der Reihe „Trittin trifft“. Verleihung des diesjährigen Göttinger Friedenspreises an den Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ im Frühjahr 2019 Interview: Christoph Oppermann

Deutsches Theater Göttingen - Intendant will Debatte über Antisemitismus