Über den Dächern von Göttingen: die Türmerwohnung von St. Johannis

Vor gut 59 Jahren hat ein Theologiestudent die höchstgelegene Studentenbude Göttingens bezogen: Jürgen Rolker, inzwischen 86 Jahre alt, Pastor im Ruhestand. Er kann sich gut an seine drei Semester im Nordturm der Johanniskirche erinnern, von Ende 1961 bis zum Sommer 1963. Als Rolker einzog, arbeitete die Stadt mit dem Evangelischen Studienwerk Villigst zusammen, um zuverlässige Mieter zu bekommen, eine kirchliche Einrichtung, die Stipendien an hochbegabte, förderungswürdige Studenten vergibt. Die Stadt wollte, „dass es verlässliche Leute sind“, erzählt Rolker. Das war bei der Vorauswahl durch Villigst garantiert. So kam Villigst-Stipendiat Rolker zu seiner Bude. Die Turmwohnung hatte zwei Zimmer, eins ganz oben, das zweite eine Etage tiefer in der oberen Fassung der Maßwerk-Fenster. Dort wohnte Rolkers Kommilitone Ludwig Friese. Eine Art Zwischendeck trennte die Zimmer: Stauraum für Habseligkeiten. Ziemlich anstrengend war es, sich dort oben zu versorgen, 239 Stufen über dem Straßenniveau. „70 oder 80 Stufen“ einer Wendeltreppe führen durch das massive zweigeschossige Westwerk. „Das war nicht ganz ohne“, erinnert sich Rolkers, denn die Stufen waren ausgetreten. Dann folgen Holztreppen im Zickzack, eine nach der anderen. „Und ganz am Ende eine kleine Stiege“. Rund 65 Höhenmeter sind das, da kommt man schon leicht ins Schnaufen. Fließend Wasser gab es nicht: Es gab kein fließendes Wasser. „Das haben wir uns in Eimern aus dem Stadthaus geholt“, berichtet er. „Leo Glowka saß an der Pforte, der hatte ein Herz für uns.“ Das Stadthaus (heute Stadtbibliothek im Thomas-Buergenthal-Haus) beherbergt damals vier Ämter der Stadtverwaltung. Jürgen Rolker und Jürgen Friese, der zweite Bewohner im unteren Zimmer des Turms, schleppten jeder immer zwei Eimer bis zu einem „Zwischenlager“ an der Wendeltreppe. „Da gab es einen größeren Raum für die Eimer.“ Wenn Gäste kamen, wurden die in den Wassertransport eingespannt: „Die haben uns immer gern geholfen.“ Zusätzlich gab es zwei Seilwinden, eine außen, eine innen. Damit konnten die Bewohner größere Gegenstände auf den Turm transportieren. „Einmal habe ich einen schweren Koffer hochziehen wollen. Aber kurz bevor ich ihn oben hatte, peng, war die Wäscheleine gerissen, und der Koffer stürzte 30 Meter runter auf eine massive Holzbohle. Der Koffer war kaputt, das hat gekracht wie ein Bombeneinschlag. Und am Ende hatte die Bohle einen tiefen Grat“, erinnert sich Rolker. Oberstübchen mit acht Ecken: Das Oberstübchen im Turm hatte einen achteckigen Grundriss. „Das habe ich in der Mitte geteilt, die eine Hälfte war Küche und Vorratszimmer, die andere zum Wohnen.“ Ob es im Winter dort oben bitterkalt gewesen sei? „Nein“, sagt Rolker. „Die Doppelfenster waren vielleicht primitiv, aber völlig dicht. Ich hatte einen Kanonenofen, der heizte ordentlich. Nur wenn der Wind aus Nordwesten kam, drückte er den Rauch ins Zimmer.“ Ein Vorteil der Bude: Sie war mietfrei – aber mit anstrengenden Aufgaben. „Wir mussten die Treppenstufen saubermachen. Da lag immer viel Taubenmist.“ Und sie mussten im Sommer den Turm einmal in der Woche für Besucher offenhalten. Da hatten sie absolute Präsenzpflicht. „Die Eintrittskarten kosteten eine Mark. 80 Pfennig bekam die Stadt, den Rest durften wir uns teilen.“ Also je zehn Pfennig pro Karte für Jürgen Rolker und für Ludwig Friese. Reich konnten sie davon nicht werden. Luftige Wohnung, gefährlicher Ort: Beamte der Stadtverwaltung kamen des Öfteren vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie wiesen die Mieter eindringlich auf ihre Pflichten hin. Wenn die Bewohner tagsüber ein unentdecktes Feuer sahen, sollten sie in ein Horn blasen, bei Nacht aber an dem Fenster, das in Richtung des Brandes zeigte, eine Lampe aufhängen. Eigens dafür waren Haken am Balken über den Fenstern angebracht. Wegen der Brandgefahr gab es auch die strenge Auflage, dass nie mehr als eine Person rauchen durfte. „Das habe ich eisern durchgehalten“, betont Rolker. Dass ihre luftige Wohnung ein gefährlicher Ort ist, wussten Rolker und Friese natürlich. „Im Notfall sollten wir uns abseilen auf das Dach zwischen den beiden Türmen. Und es gab auch ein Steigrohr bis oben hin, an dem wir mit einem Vierkantschlüssel einen Feuerwehrschlauch hätten anschließen können. Zum Glück haben wir das nie gemusst.“ Bei Sturm schwankt die Turmspitze: Schlimm war es, wenn Sturm aufzog. „Das heulte und krachte, da schwankte die Turmspitze“, weiß Rolker. Am schlimmsten sei es im Februar 1962 gewesen. Zur Zeit der Sturmflutkatastrophe in Hamburg tobten auch in Göttingen orkanartige Stürme mit Windstärke 11. „Die schüttelten das Gebälk“, erinnert sich Rolker. „Zu der Zeit war der Turm gerade eingerüstet. Da hörte ich, wie ein einzelnes loses Brett klapperte. Wenn das zu Tal gesegelt wäre, hätte das jemanden erschlagen können. Da habe ich Friese geholt, bin angeseilt auf das Gerüst gestiegen, habe mir das lose Brett vor den Bauch gebunden, und dann hat mich Friese mit dem Seil ruckweise ins Zimmer hereingezogen.“ Zum Glück kannte sich Rolker mit Seilen aus: Er war Mitglied im Alpenverein. Blick bis zum Hohen Meißner: Aber solche Ängste waren die Ausnahme. Es gab auch einen kleinen Luxus: „Wir durften im Stadthaus duschen, das hat uns Leo Glowka immer erlaubt.“ Und natürlich haben die Mieter die einzigartige Lage hoch über der Stadt genossen. „Bei schönem Wetter haben wir bis zum Hohen Meißner gesehen“, erzählt er. Nach seiner Studienzeit hat Rolker Göttingen verlassen, hatte Pfarrstellen in Heidelberg, in Bochum und anderswo. Doch 30 Jahre später, mit seiner Pensionierung, ist er mit seiner Frau wieder nach Göttingen gezogen. Heute wohnt er im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses am Klausberg. Den schönsten Raum seiner Wohnung zeigt er Besuchern zuerst: den Balkon. Mit einer phänomenalen Aussicht über das gesamte Leinetal – bei schönem Wetter bis zum Hohen Meißner. Der Balkon seiner Wohnung liegt 212 Meter über dem Meeresspiegel, wie die Internetkarte Google Earth verrät: 19 Meter höher als der Umgang am Nordturm der Johanniskirche. Jürgen Rolker ist also inzwischen aufgestiegen. 1393: Die Stadt Göttingen ernennt den ersten Turmwächter auf dem Nordturm von St. Johannis. Fast 530 Jahre lang halten die Wächter Ausschau nach Feuer und Feinden. Der Südturm beherbergt die große Uhr, die den Bürgern die Zeit anzeigt. Wegen dieser städtischen Aufgaben sind beide Türme lange Zeit im Besitz der Stadt. 1921: Franz Kerl, der letzte Turmwächter, stirbt Anfang November in seiner Türmerwohnung. Als sein Leichnam von Turm herabgelassen wird, radelt ein Student vorbei, fragt nach, was geschehen sei und meldet sich am nächsten Tag bei der Stadt, um die freigewordene Wohnung zu mieten. Arthur von Hippel heißt er. Er mietet die Turmwohnung als Treffpunkt für die von ihm gegründete „Deutsch-Akademische Gilde“. Fünf Räume gehören zu der Wohnung, die die Stadt den Mietern ohne Entgelt überlässt. Sie müssen aber täglich von 12 bis 13 Uhr den Turm für Besucher öffnen und sind für Heizung und Beleuchtung zuständig. Arthur von Hippel wird später als Mitentwickler der Radartechnik berühmt. In der Folgezeit tragen sich unter anderem der Theologe Karl Barth und der Pädagoge Herman Nohl im Turmbuch ein. 1933: Neuer Mieter als Nachfolger der Deutsch-Akademischen Gilde wird ab dem 1. Januar die 1925 gegründete Hochschulgilde „Niblung“, vertreten durch den Mathematik-Studenten Werner Franck. „Niblung“-Chef ab 1935 ist Berthold Pohlmann. 1937: Der Nachrichtensturm der 51. SS-Standarte übernimmt am 1. April die Türmerwohnung, um dort „minderbemittelte Studenten“ unterzubringen. Doch beklagt sich Hausmeister Wilhelm Böker über das Verhalten der neuen Bewohner: Auf den Treppen und in einem Zimmer liegen Scherben, es riecht stark nach Alkohol sowie nach Zigarren und Zigaretten. Und zehn Wochen lang sind die Räume überhaupt nicht bewohnt, somit gibt es in dieser Zeit keine Turmbesichtigungen. 1939: Am 31. Oktober endet das Mietverhältniss mit der SS. Herr im Haus ist nun ist der Luftschutz, der schon vor Kriegsbeginn den Turm als Warnzentrale für Übungen benutzt hat. Er richtet eine Stadtflugwache ein, die für das Abhören von Fluggeräuschen zuständig ist. 1944: Bombenangriff auf Göttingen am 23./24. November. Dabei werden auch das Dach des Kirchenschiffes und die Türme von St. Johannis beschädigt. 1945: November: Die Akademische Freischar bemüht sich bei der Stadt Göttingen, die Türmerwohnung zu mieten. 1946: Der Mietvertrag mit der Akademischen Freischar wird im März geschlossen, nachdem der Nachweis erbracht ist, dass diese Gruppe von der britischen Militärregierung zugelassen ist. Die Freischar nutzt die Räume als Treffpunkt für Diskussionsabende – zum Wohnen sind sie vorerst nicht geeignet, weil die Fensterscheiben fehlen. Zur Freischar gehören unter anderem der spätere Göttinger Rechtsanwalt Helmut Beyer mit seiner Ehefrau Ursula, dazu der später als Märchenforscher hervorgetretene Andreas Scherf, 1949 Bundesführer der deutschen Jungenschaft, der Tolkiens Buch „Der kleine Hobbit“ ins Deutsche übersetzt hat. 1955: Mietnachfolger der Freischar, die sich zuvor nach und nach aufgelöst hat, ist die „Osthilfe Westdeutscher Schülervertretungen“. In der Osthilfe-Zeit gehört der spätere Professor Hans Erich Troje (Rechtswissenschaften) zu den Mietern. 1960: Die Stadt vermietet in Absprache mit dem Evangelischen Studienwerk Villigst die Turmwohnungen an Villigster Stipendiaten. In der Wohnung finden auch Villigst-Gruppenabende statt. 1970: Die Stadt will den Unterhalt für die Kirchtürme von St. Johannis nicht mehr aufbringen, weil die Türme inzwischen keine städtische Funktion mehr besitzen. Damit endet die Zeit der Villigst-Stipendiaten. 1972: Mit dem Ende des städtischen Regiments über die Türme übernimmt die Kirchengemeinde St. Johannis die Vermieterfunktion. An Bewerbern herrscht fast 30 Jahre lang kein Mangel. Im Jahr 2001 sind Jürgen Bartz und Tobias Zöller die letzten Mieter. Sie müssen ausziehen: Die Türme werden saniert. 2001-2004: Sanierung der Türme 2005: Nachdem die Sanierung gerade abgeschlossen ist, brennt am 23. Januar die Spitze des Nordturms nach einer Brandstiftung zweier Jugendlicher aus. In einer Bauzeit von neun Monaten wird die zerstörte hölzerne Turmspitze extern rekonstruiert und im November mit einem Kran wieder auf den Turm gesetzt. Doch die Zeit der Turmwohnungen ist endgültig vorüber. Ohne zweiten Fluchtweg ist das Wohnen nicht mehr gestattet. Übrigens ist inzwischen auch der Taubendreck Geschichte: Hasendraht zwischen den schrägen hölzernen Luftschlitzen verhindert effektiv und preiswert die gefiederte Dauerinvasion. seit 2005: Die Gemeinde St. Johannis nutzt den Raum als Kapelle für Andachten – „Sunset-Andachten“ mit Blick auf den Sonnenuntergang seien besonders stimmungsvoll, schwärmt Johannis-Pastor Gerhard Schridde –, für Trauungen, Taufen und Lesungen. Jeden Sonnabend um 11 Uhr spielen die Turmbläser auf St. Johannis Choräle vom Turm in die Stadt hinab. Dazu wird der Turm jeden Sonnabend um 12 Uhr zur Besichtigung geöffnet – wie in alten Zeiten. Derzeit allerdings sind die Besichtigungen coronabedingt ausgesetzt. Info: Diese Chronik stützt sich großenteils auf die Broschüre von Jörn Barke „Die Türmerwohnung von St. Johannis. Geschichte eines Göttinger Wahrzeichens 1921 – 2001“, erschienen 2007 beim Göttinger Tageblatt. Die Broschüre ist nicht mehr erhältlich. Die Fotos des letzten Mieters der Turmwohnung, Jürgen Bartz, hat der Fotograf Berthold Steinhilber 2001 aufgenommen. Sie wurden in dem Buch „Der Traum vom anderen Wohnen“ veröffentlicht, der mit Texten von Sabine Böhne und Inge Behrens 2001 im Verlag Gerstenberg in Hildesheim erschienen ist. Das Buch ist vergriffen, antiquarisch sind aber Exemplare erhältlich. Von Michael Schäfer