Wenn viele Nerven leiden - Polyneuropathie beim älteren Menschen

Wie fast alle Organe, macht auch das periphere Nervensystem Alterungsprozesse durch. Wie im zentralen Nervensystem kommt es zum Absterben von Nervenzellen, so dass andere Nervenzellen ihre Funktion übernehmen müssen, und in geringerem Umfang auch zu einer Verlangsamung der Nervenleitung. Während des normalen Alterns führen diese Alterungsprozesse aber nicht zu Krankheitserscheinungen. Bei über der Hälfte der über 85-Jährigen lassen sich aber bei einer gründlichen neurologischen Untersuchung Befunde erheben, die auf eine Polyneuropathie hindeuten. Der Begriff Poly-neuro-pathie setzt sich aus den griechischen Wörtern „poly“ = viel, „neura“ = Nerv und „pathos“ = Leid zusammen und bedeutet „viele Nerven leiden“. Die Krankheitszeichen sind dementsprechend vielgestaltig, je nachdem, welche Nerven betroffen sind. Polyneuropathien im Alter sind nicht harmlos. Außer quälenden Reizerscheinungen und Schmerzen, die die Lebensqualität reduzieren und den Nachtschlaf stören, sind Polyneuropathien Ursachen von Gangstörungen und Stürzen – und sind eine wichtige Teilursache des diabetischen Fußsyndroms. Krankheitszeichen: Die häufigsten Krankheitszeichen, unter denen Menschen mit einer Polyneuropathie leiden, sind Kribbeln, Ameisenlaufen, Stechen, Gefühl von elektrischem Strom, Pelzigkeit, Schwellungs-, Kälte- oder Wärmegefühl, bei stärkerer Ausprägung der Erkrankung Abnahme von Schmerz-, Berührungs-, Temperatur oder Lageempfinden. Auch dem „Syndrom der unruhigen Beine“ (Restless-legs-Syndrom) liegt in den meisten Fällen eine oft milde Polyneuropathie zugrunde. Bereits in der Frühphase kommt es zu Muskelzucken und Muskelkrämpfen, während eine Muskelschwäche, eine Verringerung des Volumens der Muskeln („Muskelschwund“) sowie höhergradige Lähmungen erst bei schweren Formen auftreten. Das vegetative Nervensystem ist ebenfalls häufig betroffen mit Wundheilungsstörungen und Wachstumsstörungen der Haut, Störungen des Schwitzens, Blutdruckabfällen nach dem Aufstehen, einer starren Herzfrequenz, einer Lähmung der Magen-, Darm- und Blasenentleerung sowie Störungen der Sexualfunktion. Ursachen: Es gibt über 500 bekannte Ursachen für eine Polyneuropathie. In Deutschland sind am allerhäufigsten die durch die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) verursachten, gefolgt von durch übermäßigen Alkoholkonsum ausgelösten Polyneuropathien. An dritter Stelle folgen, insbesondere beim älteren Menschen, Polyneuropathien als Folge eines Vitamin B12-Mangels. Ein Vitamin B12-Mangel kann durch eine Erkrankung des Magen-Darm-Trakts verursacht sein, die diagnostiziert und ggf. behandelt werden muss, oder durch bestimmte Diäten (Veganer haben häufig einen Vitamin B12-Mangel) oder durch das Einnehmen einiger Medikamente (vor allem Magensäureblocker und das bei der Zuckerkrankheit häufig verordnete Metformin). Lesen Sie auch: Palliativmedizin – warum sie nicht nur am Lebensende wichtig ist Im Alter nimmt die Zahl der „idiopathischen“ Polyneuropathien zu – also der Polyneuropathien, bei denen keine Ursache gefunden wird. Bei über 80-Jährigen bleibt etwa ein Drittel der Neuropathien ungeklärt. Um ursächlich behandelbare Erkrankungen zu erkennen, ist eine Basisdiagnostik auch im Alter nötig. Hierzu gehören neben einer gründlichen Anamnese, die auch die Menge des wöchentlich vom Erkrankten getrunkenen Alkohols erfragt, und einer eingehenden körperlichen Untersuchung verschiedene Laboruntersuchungen. Was verschreibt der Arzt? Ursächlich behandelbare Polyneuropathien müssen ursächlich behandelt werden. Hierzu zählt in erster Linie beim Vorliegen einer Zuckerkrankheit die optimale Einstellung des Blutzuckers durch Medikamente, körperliche Aktivität und eine entsprechende Diät. Bei durch eine Alkoholabhängigkeit verursachten Polyneuropathien muss auf Alkohol verzichtet werden. Ein Vitamin B12-Mangel muss durch Vitamin B12-Spritzen behandelt werden. Seltener sind zur Behandlung von durch Immunerkrankungen oder bösartige Neubildungen verursachten Polyneuropathien Glukokortikoide („Kortison“), andere das Immunsystem hemmende Substanzen einschließlich gentechnisch hergestellter Immunglobuline (monoklonale Antikörper), Immunglobuline von anderen Menschen, eine Plasmapherese („Blutwäsche“), gegen Bakterien oder Viren wirksame Antibiotika oder bei bösartigen Neubildungen eingesetzte Chemotherapeutika nötig. Lesen Sie auch: Nebenwirkungen bei Krebs – von Haarausfall bis zum Fatigue-Syndrom Zur symptomatischen Behandlung der sensiblen Reizerscheinungen können Schmerzmittel und Medikamente aus der Behandlung von Epilepsien (Antiepileptika) und Depressionen (Antidepressiva) eingesetzt werden. Dies führt nicht selten beim Patienten zu Irritationen, denn er hat doch keine Epilepsie und keine Depression. Antiepileptika hemmen die überschießende Nervenerregung nicht nur im zentralen Nervensystem, weshalb sie bei der Epilepsie zum Einsatz kommen, sondern auch im peripheren Nervensystem, weshalb sie bei polyneuropathischen Reizerscheinungen wirksam sind. Im Alter besonders geeignete Substanzen sind Gabapentin und Pregabalin. Diese Medikamente wirken auch bei einem durch eine Polyneuropathie verursachten Syndrom der unruhigen Beine. Manche Antidepressiva erhöhen auch beim Gesunden die Schmerzschwelle. Das heißt: Der gleiche Schmerzreiz wird nach Einnahme des Antidepressivums nicht mehr so stark wahrgenommen wie zuvor. Mehrere in der Schmerzbehandlung gut wirksame Antidepressiva haben bei alten Menschen unangenehme Nebenwirkungen. Von den neueren nebenwirkungsärmeren Antidepressiva ist in Deutschland nur das Duloxetin für die Schmerzbehandlung arzneimittelrechtlich zugelassen, weshalb wir es oft anwenden. Oft muss zusätzlich ein Schmerzmittel, etwa Novaminsulfon, verordnet werden, und manchmal benötigen Kranke zusätzlich ein starkes Schmerzmittel aus der Gruppe der Opium-Verwandten (Opiate). Manchmal bringen besondere Schmerzpflaster, die auf die am stärksten beeinträchtigten Stellen geklebt werden, Linderung. Lesen Sie auch: Leopoldina-Neurologin über Impfstart: „Grobes Versagen der Verantwortlichen“ Wenn Gleichgewichtsstörungen oder Lähmungen vorliegen, müssen diese den Patienten sehr belastenden Krankheitszeichen mit Krankengymnastik angegangen werden. Wenn Lähmungen eingetreten sind, benötigt der Kranke entsprechende Hilfsmittel (Gehstock, Unterarm-Gehstütze, Rollator, hoher Gehwagen). Ferner können durch die Haut oder in der Nähe des Rückenmarks applizierte Stromstöße (transkutane elektrische Nervenstimulation) die Schmerzen lindern, seltener bringen Akupunktur oder chirurgische Verfahren Erleichterung. Biofeedback und Massagen dienen vorwiegend dazu, dass der Kranke lernt, sich zu entspannen, und reduzieren hierüber die Schmerzen. Was kann ich selbst tun? Wichtig ist eine gesunde, vielfältige Ernährung mit ausreichend Kalorien. Hierdurch wird das Wiederaussprossen abgestorbener Nervenendigungen verbessert. Auf Alkohol muss bei einer Polyneuropathie verzichtet werden. Hautpflegende Cremes, Bäder und Kneipp`sche Güsse können ebenfalls Linderung bringen. Der konsequente Gebrauch von Hilfsmitteln vermeidet Stürze. Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Kranke sich im Rahmen seiner Möglichkeiten viel bewegt. Hierdurch werden die Muskeln und der Gleichgewichtsinn trainiert. Außerdem wird der Nachtschlaf gefördert. Dies gilt auch für ursächlich nicht behandelbare („idiopathische“) Polyneuropathien. Idealerweise betreibt der Kranke Kraft-, Ausdauer- und Gleichgewichtstraining und führt die vom Krankengymnasten gelernten Übungen dann täglich allein oder mit Unterstützung durch Angehörige selbst durch. Fazit: Polyneuropathien im Alter sind häufig. Auch wenn der Prozentsatz der „idiopathischen“ Polyneuropathien, deren Ursache man nicht kennt, im Alter zunimmt, lassen sich auch im Alter zahlreiche Polyneuropathien ursächlich behandeln. Am wichtigsten sind eine gute Blutzuckereinstellung, Alkoholabstinenz bei der Alkoholkrankheit sowie der Ausgleich eines eventuell bestehenden Vitamin B12-Mangels. Die symptomatische Behandlung mit Medikamenten bringt in der Regel eine gute Linderung der Reizerscheinungen. Hierfür ist Geduld und die Bereitschaft, verschiedene Wege zu erproben, nötig. Lähmungen lassen sich mit Schmerzmitteln allerdings nicht bessern. Durch Krankengymnastik und Eigeninitiative sowie den konsequenten Gebrauch nötiger Hilfsmittel soll der Erkrankte seine Beweglichkeit erhalten und die Teilhabe am sozialen Leben sichern. Nicht nur gesunde, auch kranke Nerven lassen sich trainieren! Die Autoren: Prof. Dr. Marija Djukic und Prof. Dr. Roland Nau, Geriatrisches Zentrum, Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende (EKW) Leser fragen: Liebe Leser, stellen Sie Ihre Frage zum Thema „Polyneuropathie“ bitte bis Montag, 11. Januar, 12 Uhr. Hierfür gibt es eine eigene E-Mail-Adresse. Sie lautet sprechstunde@goettinger-tageblatt.de Ihre Fragen werden dann von den beiden Experten beantwortet. Die Antworten finden Sie am kommenden Sonnabend in Ihrem Tageblatt – wiederum auf der Seite „Gesund in Göttingen“. Von Prof. Dr. Marija Djukic und Prof. Dr. Roland Nau