Wird heute 80 Jahre alt: Der Göttinger Sozialdemokrat Klaus Wettig

Er war Schriftsetzer beim Göttinger Tageblatt und Mitglied des Europaparlaments, Politikberater und Kulturmanager. Sein Rat ist immer noch gefragt. Im Tageblatt-Interview blickt Klaus Wettig aus Anlass seines 80. Geburtstages am Sonnabend, 15. August, auf seinen ungewöhnlichen Werdegang zurück. Wo verbringen Sie Ihren eigentlichen Geburtstag und wie feiern Sie den in der Corona-Zeit? Wir fahren seit über 30 Jahren nach Südtirol auf den Ritten. Dort habe ich sehr oft meine Geburtstage gefeiert, auch runde, weil die öffentlichen Feiern oder die Empfänge außerhalb der Ferienzeit sein müssen, und meist liegt der 15. August in Niedersachsen in den Ferien. So wird es auch in diesem Jahr sein. 80 Jahre. Aber mit Ruhestand hat das bei Ihnen ganz offenkundig nicht besonders viel zu tun. Warum gönnen Sie sich den nicht? Es gibt den medizinischen Rat, dass man, solange es geht, aktiv bleiben soll. Und da ich bisher über eine sehr gute Gesundheit verfüge, kann ich aktiv sein. Das heißt also, auch noch in den Bergen herumlaufen und schwimmen gehen, was man dort in einem Bergteich kann, der zwar ein bisschen kühl ist, aber das soll ja auch sehr gesund sein. Mir macht’s eben Spaß, im kulturellen Bereich dieses oder jenes noch zu beeinflussen und durchzusetzen; und eben zu schreiben. Ich konnte immer ein bisschen über dem Durchschnitt schreiben, das habe ich während meiner Berufszeit trainieren können. Ein Politiker redet und schreibt. Also konnte ich das nutzen und habe es später ausgebaut. Vor allen Dingen bin ich auf etwas zurückgekommen, das ich mal studiert hatte, nämlich Geschichte. Und jetzt habe ich wirklich die Zeit, ins Archiv zu gehen. Und was ist der politische Antrieb, noch nicht in den Ruhestand zu gehen? Wenn man so lange wie ich in der SPD ist, dann leidet man am Zustand der SPD. Ich habe vor Jahrzehnten gelernt: Zur DNA eines Sozialdemokraten gehört, dass er immer an seiner Partei leidet. Ich war zu Zeiten auch sehr zufrieden mit dem, was wir erreicht haben, auch, was wir hier in Göttingen erreicht haben. Im Zusammenwirken einer Hand voll von Politikern ist es gelungen, das Göttinger Schulwesen umzubauen. Ohne deren Leistung, und dazu habe ich einen wichtigen Teil im Kultusministerium, als Parteivorsitzender und auch als Schulausschussvorsitzender beitragen können, würde es zwei Gesamtschulen in Göttingen nicht geben; und es erfüllt mich mit einem gewissen Stolz. Dann gibt es Projekte im Kulturbereich. Ich habe mich vor allem außerhalb Göttingens sehr intensiv als Kulturmanager betätigt und auch einiges bewirken können, wenn auch in Berlin. Manches, was ich dabei tun konnte oder gelernt habe, habe ich nach Göttingen übertragen können: einige beachtete Ausstellungen. Und jetzt gebe ich gelegentlich zu einigen Projekten meinen Rat dazu. Das Wichtigste sind wohl der Göttinger Literaturherbst und die Göttinger Literaturstiftung. Sie haben das Leiden an der SPD beschrieben. Vor gut 20 Jahren hat die SPD noch den Kanzler stellen können. Von dieser Möglichkeit scheint sie heute etwas weiter entfernt zu sein. Wie würden Sie den Zustand Ihrer Partei beschreiben? Der Zustand ist schlecht. Aber jemand, der sich in der Geschichte der SPD so gut auskennt wie ich, weiß, es ist ihr nicht immer gut gegangen. Sie hat vieles überlebt. Und in einem bedeutenden Kommentar zu 150 Jahren SPD schrieb der Autor: Die SPD ist nicht aus Schwäche 150 Jahre alt geworden. Ich glaube, dass sich die SPD wieder erholen wird. Bei meinem 50. Geburtstag waren wir auch in der Opposition, und ich habe damals in meinen Dankesworten ein Gedicht von Fontane zitiert, das hat die entscheidende Zeile: „Das möchte ich noch erleben.“ Ich wollte noch mal einen sozialdemokratischen Kanzler erleben. Das habe ich erlebt; es war mein Studien- und Parteifreund Gerhard Schröder. Ich bin mir nicht sicher, dass ich so alt werde, dass ich das noch mal erlebe. Aber, ich zitiere Willy Brandt, der in seinem Abschiedsbrief an uns geschrieben hat: „Nichts ist von Dauer.“ Dass sich die politische Szene in Deutschland so sehr in den Parlamenten verändern würde, wie wir sie jetzt sehen, das hätte vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten. Die Substanz der SPD ist stark genug, dass sie sich wieder erholen kann. Aber sie wird sich beim Spitzenpersonal deutlich verändern müssen. Sind es nur äußere Umstände, die den Zustand der SPD ausmachen, oder ist die Partei zwischen ’98 und heute falsch abgebogen? Im Programmatischen hat die SPD das, was die rot-grüne Regierung im wirtschaftspolitischen Bereich gemacht hat, nicht so recht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Welt ist heute anders als sie es zu Zeiten des Godesberger Programms war, dem entscheidenden Programm in der Nachkriegsgeschichte der SPD. Sie ist auch heute, und das war ein Fehler der Schröder-Fischer-Trittin-Politik, sie ist auch nicht so neoliberal zu heilen gewesen, wie man damals geglaubt hat. Die Entfesselung der Marktkräfte, die diesem Programm zugrunde lag, hat auch viele Probleme geschaffen, die wir bereinigen müssen. Und die Corona-Krise belehrt uns darüber, was wir alles privatisiert haben, und was wir doch in staatlicher Regie brauchen. Ein privates Gesundheitssystem hätte uns ins Unglück gefahren. Nur, weil wir Reste eines staatlichen Gesundheitssystems haben, konnte jedenfalls die erste Corona-Welle sehr gut bewältigt werden. Da gibt es sehr viele Punkte. Das Problem ist, dass es der SPD-Parteiführung an Durchdringung, an Analyse fehlt. Das ist nicht ganz einfach, das ist auch sehr schmerzhaft. Ich selbst habe an mehreren Parteiprogrammen mitgeschrieben und weiß, wie kompliziert solche Situationen sind. Und dazu kann ich jetzt nur raten, dringend, diese Neuaufstellung zu unternehmen. Nur mit Sozialpolitik allein, dieser Kurs ist richtig, werden wir nicht in die Nähe von 30 Prozent oder sogar von den 40 Prozent kommen, die man braucht, um zu regieren. Kommen wir zu Ihnen zurück: Schriftsetzer, Europaabgeordneter, Buchautor, Verlagsmanager, Kulturmanager, Emissär von Willy Brandt für die SPD: Was war Ihr liebster Beruf? Ich war sehr gern Schriftsetzer. Da habe ich viel gelernt; vieles, das mich geprägt hat. Meine ästhetischen Grundauffassungen stammen aus dieser Zeit; vermittelt von Ausbildern, die auch damals, in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre, die Bauhaus-Typografie vermittelten. Entscheidend geprägt hat mich der Schritt in die Beschäftigung mit der künstlerischen Moderne, die die Nazis vernichtet hatten. Darüber habe ich später viel geschrieben. Ich wäre gern Kulturbeamter geblieben, damals im Kultusministerium, aber da stimmten die Mehrheiten nicht. Und ich habe einmal eine Abstimmung in Göttingen ganz knapp verloren, sonst wäre ich hier 1976 Kulturdezernent geworden. Dann wäre vielleicht alles ganz anders geworden. Aber dann ergab sich diese Chance nicht mehr. Dann, würde ich mal ganz nüchtern sagen, bin ich Berufspolitiker geworden. Ich hatte eine gewisse Spielklasse erreicht, damit kann man auch in der politischen Bundesliga mitspielen. Lesen Sie auch: Zehn Fragen an 100 Ehemalige der Georgia Augusta: Klaus Wettig (SPD) Wenn Sie in der Bundesliga mitgespielt haben: Was war, im Rückblick, Ihr größter politischer Fehler? Mein größter politischer Fehler war, dass ich mir, weil ich ordentlich Latein konnte, mäßig Englisch mit einem Abitur im zweiten Bildungsweg, nicht die Zeit genommen habe, perfekt Französisch zu lernen. Meine gesamten Französischkenntnisse stammen aus der Abgeordnetenzeit. Hätte ich ein bisschen mehr Wert daraufgelegt – vermutlich wäre ich dann im Europäischen Parlament auch noch Parlamentspräsident geworden; dafür muss man Französisch können. Englisch habe ich gut nachgearbeitet, das hat jetzt nachgelassen, aber bis zur freien Rede auf Englisch konnte ich das. Und Portugiesisch habe ich, aus anderen Gründen, sehr viel früher bis zu einem gewissen Niveau gelernt. Da kommen wir zu einer der schillerndsten Episoden Ihres Lebens. Die SPD unter Willy Brandt hat sich dadurch ausgezeichnet, junge Demokratien in Südwesteuropa zu unterstützen, als diese in den 70er-Jahren Hilfe brauchten. Offenkundig müssen Sie dort relativ viel Eindruck hinterlassen haben, denn wenn man Wikipedia glauben darf, sind Sie da relativ hoch geehrt worden. Das trifft zu. Die SPD, das sollte man nicht unterschlagen, hat immer, weil sie sehr früh, auch schon vor 1914, die stärkste sozialdemokratische Partei in der Welt war, immer Verfolgten geholfen. Rosa Luxemburg hätte nicht überlebt, wenn die deutschen Sozialdemokraten ihr nicht geholfen hätten. Denn ins zaristische Russland, aus dem sie fliehen konnte, durfte sie nie mehr zurückkehren. Nur die Sozialdemokraten haben ihr geholfen. Diese Politik, von der die SPD auch selbst profitiert hat, vor allem in der Nazizeit, in der sie sich ihrVorstand außerhalb Deutschlands aufhalten musste, hat solche Aktionen immer wieder gemacht. Die umfassendste Hilfe gab es für Portugal und Spanien. Dass das so intensiv wurde, ist vor allem dem Weitblick von Willy Brandt zu verdanken, der nach einem Besuch Ende 1974 in Portugal gesagt hat: „Da müssen wir etwas tun.“ Er hat eine Vereinbarung mit den Parteivorsitzenden Kohl und Genscher getroffen – damals gab es nur drei Parteien im Deutschen Bundestag –, dass man gemeinsam den demokratischen Parteien in Portugal nach der Revolution hilft. Und Hilfe bedeutete auch, dass man richtig viel Geld dafür aufwendet. Das kann man nicht nur überweisen, sondern man braucht Leute vor Ort. Es war eher Zufall, dass ich mit einem Kollegen, der damals Pressesprecher der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament war, und einem Dolmetscher nach Portugal geschickt wurde. Unser Auftrag bestand darin: Wir mussten uns um die Geldversorgung bemühen. Das war schwierig. Der Revolutionsrat hatte durchgesetzt: Hilfe aus dem Ausland darf es nicht geben. Gegenüber der Hilfe für die Kommunisten haben sie die Augen verschlossen. Die Kommunistische Partei Portugals bekam Geld, vor allen Dingen aus der Sowjetunion und auch aus der DDR. Einige Kameraden aus der DDR habe ich nach der Wende wieder getroffen. Also darum haben wir uns gekümmert. Im Jargon heißt das „Kofferträger“. Hans-Jürgen Wischnewski hat das für die algerische Unabhängigkeitsbewegung gemacht. Man konnte kein Geld mehr überweisen, weil das verboten war, und die verstaatlichten portugiesischen Banken wurden ganz überraschend von einer maoistischen Gewerkschaft kontrolliert. Das erklärt alles. Und selbst, wenn man größere Mengen Bargeld hatte, war es sehr kompliziert, umzutauschen. In Wechselstuben wurden die Personalien registriert. Wir haben manchmal deutsche Touristen, die wir sehr gut kannten, gebeten, etwas umzutauschen. Darüber kann man viele Geschichten erzählen, wie das im Einzelnen ablief. Aber ohne unsere Hilfe wäre die Sozialistische Partei Portugals nicht stärkste Partei bei der ersten Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung geworden. Das war der eine Teil. Der andere Teil war: Schlicht Nachrichten zu übermitteln. Nachrichten, die man nicht per Brief oder per Telefon übermitteln konnte. Natürlich überwachte uns der Geheimdienst, denn der faschistische portugiesische Geheimdienst bestand ja weiter. Wir kennen dasselbe aus Deutschland. Wer für die Nazis gearbeitet hat, war später beim BND, oder hat für die CIA gearbeitet. Da wurde uns schon gesagt: Passt auf. Jahrzehnte später würde ich sagen: Wir waren nicht so gut vorbereitet. Für so etwas muss man einfach anders trainiert sein, ohne, dass man so wie James Bond wird. Wir haben es überstanden. Wir haben bestimmte Informationen in die Bundesrepublik weitergegeben: Verschlüsselt, das hatte man uns beigebracht, aber auch durch Direktflug nach Deutschland, um mit den entscheidenden Leuten in der SPD sprechen, bis hin zu Helmut Schmidt. Um zu sagen: Das läuft hier, das ist die Information von Mário Soares persönlich, bitte helft uns. Dann gab es unsere Beobachtung des Wahlkampfes. Die portugiesischen Sozialisten hatten große Vorbehalte gegenüber der Personalisierung eines Wahlkampfes. Das kann man sich bei einer neu gegründeten Partei erklären. Das war das Problem der Grünen oder ist es bis zum heutigen Tage. Und das spielte bei den Sozialisten auch eine Rolle, obwohl die Dominanz von Mário Soares überragend war; aber es gab Leute, die sagten: Das könnte ich auch. Jedenfalls haben wir ein wenig zu Wahlkampfkorrekturen beigetragen. Wir haben Soares immer begleitet, wenn er auf Wahlkampfreisen in Portugal war, daher lernte ich Portugal sehr gut kennen. Wir haben Soares‘ Leuten gesagt: Ihr solltet eigentlich einen Personenwahlkampf machen. Der Mann hat eine hohe Zustimmung, die könntet ihr noch höher bringen, wie die des Kommunistenführers Álvaro Cunhal. Er war der eigentliche Widerpart. Und das ist aufgegangen. Später habe ich mit vielerlei Aufträgen zu tun gehabt. Das war vor allen Dingen Fortbildung, in einer so jungen Partei: Wo sollten die Sozialisten, Sozialdemokraten denn herkommen? Die portugiesische Partei, wie die spanische, hatte einen Vorteil: Dass in der Emigration sehr viele zu der Partei gestoßen waren und sich im sozialdemokratischen Programm-Denken bewegten. Wenn auch mit einer bedeutenden Differenz. Sie hatten eine Vorstellung von der Gestaltung der Gesellschaft, die vor Godesberg lag. Und so war die portugiesische Welt auch: Dass der Revolutionsrat unter dem Einfluss der Kommunisten sehr früh die Banken verstaatlicht hatte und vieles andere mehr; auch eine große Agrarreform durchführte. Da war einiges richtig, doch die portugiesische Wirtschaft ließ sich so nicht organisieren. Militärs verstehen nichts von Wirtschaft. Ein Beispiel zeigte die Verstaatlichung: Sämtliche Medien gehörten plötzlich dem portugiesischen Staat. Was sollte man sagen? Darauf konnte man nur Einfluss nehmen, indem man der Partei half, politisches Personal auszubilden. Damit war ich mehrere Jahre beschäftigt, nicht ständig, aber immer wieder: Rundreisen durch Deutschland mit den Nachwuchspolitikern zeigten, wie toll die deutsche Demokratie ist; wie funktioniert bei uns Kommunalpolitik. Ich hatte einen großen Vorteil, denn ich nahm die Gruppen immer mit nach Göttingen. Dann haben die sich hier die Müllabfuhr abgesehen, denn das war ein großes Problem in Portugal. Oder wie ist hier Wohnungsbau organisiert? Denn zum Kennzeichen des Faschismus gehört, dass es dort keinen sozialen Wohnungsbau gibt. U.s.w, u.s.w. Als es darum ging, wen wir ins Europäische Parlament schicken, habe ich gesagt, dafür möchte ich kandidieren. Es war klar, dass Portugal mit Spanien irgendwann Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden wird. Und als Abgeordneter war klar: Ich sitze in der Kommission, die die beginnenden Beitrittsverhandlungen mit Portugal begleitet. Das habe ich gemacht bis zur Unterzeichnung der Beitrittsverträge, bei der ich, das war eine große Ehre, der Vertreter des Europäischen Parlaments in Lissabon und Madrid war. Anschließend habe ich den Orden bekommen. Welche war im Rückblick die prägendste politische Figur, mit der sie zu tun hatten? Das war ganz eindeutig Peter von Oertzen. Woran lag das? Peter von Oertzen und ich konnten gut miteinander umgehen. Ich kam mit seinem schnodderigen Berliner Humor ganz gut klar, und er fühlte sich nicht durch ironische Anmerkungen von mir verletzt. Er verließ sich strikt auf das, was ich zu Wahlkämpfen sagte, wie wir die anlegen sollten. Davon profitierte er ja auch. Da hatte ich mit der Zeit, das hing auch mit meiner Schriftsetzer-Ausbildung zusammen, Spezialkenntnisse entwickelt. Ein gut ausgebildeter Schriftsetzer versteht immer etwas von Gestaltung von Drucksachen, und Wahlkämpfe bestanden überwiegend in der Produktion von Drucksachen. Das brachte ich ein. Und zunehmend auch theoretische Kenntnisse, wahlsoziologische, und ganz praktische. Ich war, das war eher Zufall, der politische Mitarbeiter von Philip Rosenthal geworden, der Bundestagskandidat in Wolfenbüttel wurde. In dessen Team habe ich ein gutes halbes Jahr, – nicht ständig – gearbeitet und dort sehr viel von Profis der kommerziellen Werbung gelernt. Politische Werbung und kommerzielle Werbung unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: Bei der kommerziellen Werbung sieht man sofort, hat sie Erfolg oder nicht; bei der politischen Werbung kann man brillant sein, man kann sogar einen Preis der Art Directors gewinnen, aber das Wahlergebnis ist trotzdem, ich sag jetzt mal – bescheiden. Man kann aus der kommerziellen Werbung lernen. Das ist mir, glaube ich, erfolgreich in der SPD-Werbung gelungen. Man kann es bestreiten: Ich glaube immer noch: Die absolute Mehrheit der Sitze im Niedersächsischen Landtag unter dem neuen Landesvorsitzenden Peter von Oertzen 1970 hat die SPD gewonnen, weil ich bestimmte Elemente einbringen konnte, die der Sozialdemokratie völlig fremd waren. Das machte den Wahlkampf interessant. Wenn man über Wahlkämpfe liest, dann lernt man aus der Analyse, dass ein wichtiger Punkt ist– neben Personen und Programm –, dass der Wahlkampf interessant sein muss, er muss die Leute interessieren. Dann kommen Personal und Programm bei den Menschen an. Die SPD zeichnete sich immer wieder dadurch aus, dass sie Wahlkämpfe von außerordentlicher Erdschwere produzierte, was man auch am Gewicht der Wahlprogramme erkennen kann. Das Beste, das ich gemacht habe, mit anderen, ich war ja nie alleine, war der Europa-Wahlkampf 1984. Den haben wir zu einer kulturellen Veranstaltung über die europäische Integration ausgestaltet und dafür Bilder entworfen. Einzelne Elemente sind dann später in Wahlkämpfe der SPD eingegangen. Aber vieles ist wieder verschwunden. In den Schröder-Wahlkämpfen in Niedersachsen bis hin zu 1998 ist manches übrig geblieben. Manche würden sagen, nein, das hängt gar nicht mit dem zusammen, aber es ist eben so. Schröder hat sich mit mir immer sehr ausführlich darüber unterhalten und hat vieles umgesetzt. Aus dem Europawahlkampf 1984 übernahm der die Flussreise auf der Weser in seinen ersten Wahlkampf 1986. Beinahe hätte er ja Ernst Albrecht geschlagen. Zur Flussreise kamen viele, die niemals in eine SPD-Versammlung gekommen wären. Das interessierte sie. Sie sagten am Anfang, dass es gute Gründe gebe, nicht zur Ruhe zu kommen. Was sind die Pläne für die nächste Etappe? Ich habe noch einige literarische Pläne. Mit Erfolgsabsicht für irgendein Parlament kandidieren will ich nicht. Obwohl man manchmal sagt: Mein Gott, da würde ich auch noch mal ein Tor schießen. Aber das muss man sich verkneifen, das hat keinen Sinn. Ich schwanke zwischen mehr oder weniger interessanten Projekten. Ich habe mit jemand anderem, der leider nicht mehr lebt, eine Zusammenstellung von Schmähgedichten gegen die SPD gemacht. Das fängt vor 1914 an, hatte den Höhepunkt in der Weimarer Republik. Bekannte Autoren haben dazu beigetragen, ich nenne Kurt Tucholsky und Erich Weinert, auch viele andere. Nach 1945 findet das eine Fortsetzung, steht aber nicht so im Zentrum. Die bekannteren Autoren haben sich das verkniffen; wahrscheinlich, weil ihre Fähigkeit, Metrum und Reim einzuhalten, etwas nachgelassen hatte. Ein Beispiel: Eine Kabarettistin hat Peter Glotz, den bedeutenden SPD-Denker karikiert; sie hat einen Text geschrieben „Die Nacht, als ich von Peter Glotz geträumt habe“. Das wird ein Abschlussstück werden. Das ist schwer zu kommentieren. Lebensläufe sind einfach, aber viele Begriffe, die uns heute gar nicht mehr geläufig sind, nicht; oder der politische Hintergrund: Wer weiß schon noch, was das Preußische Konkordat von 1929 bedeutet hat? Das macht Arbeit. Und dann überlege ich, ob ich einen kleinen Text schreibe, den ich zu einem Teil im Kopf habe, zu 75 Jahren Niedersachsen. Mein Niedersachsen. Denn geboren bin ich noch als Hannoveraner. Meiner Familie war auch immer klar: Wir sind keine Preußen, wir sind Hannoveraner. Zu Hause gab es eine Landkarte, auf der stand Südhannover. Ich überlege, diese Geschichte etwas ironisch zu beschreiben, was einem alles so begegnet ist. Ich bin mit Ausnahme von Hellwege allen niedersächsischen Ministerpräsidenten, die das seit 1946/47 regierten, seit der Gründung des Landes, persönlich begegnet. Einen ersten Teil aus Einzelstücken von Erinnerungen habe ich geschrieben. Und ich überlege, den zweiten Teil zu schreiben. Nicht erst, wenn ich meinen Füllfederhalter nicht mehr halten kann. Ich schreibe ja nicht am Computer, sondern schreibe noch per Hand. Einen Teil habe ich fertig überlegt; man sollte nicht so schreiben, dass man zum Schluss nur noch name-dropping macht. Ich bin vielen Leuten begegnet; nicht nur Mário Soares, auch französischen Ministerpräsidenten, Kommissionspräsidenten. Ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu Jaques Delors. Seine Memoiren habe ich ins Deutsche übersetzen lassen und verlegt. Ich neige zur Zurückhaltung. Ich möchte nicht mit jeder Begegnung renommieren. Der berüchtigte italienische Ministerpräsident Bettino Craxi hat mir einmal einen handsignierten Aschenbecher geschenkt. Ich rauche aber nicht. So etwas möchte ich weglassen. Aber es gibt eben auch andere Dinge: Soll man noch mal dahin reisen oder dahin? Ich bin mehrfach in den Vereinigten Staaten gewesen, habe mehrere Präsidentschaftswahlkämpfe beobachten dürfen, um weitere Wahlkampferfahrungen zu sammeln, die die SPD unter den neuen Aspekten nutzen wollte. Da habe ich jetzt gesagt: Selbst wenn es einen neuen Präsidenten gibt, was ich hoffe – ich glaube, da fliege ich nicht mehr hin. Wie sehr wird Ihr Rat noch von der SPD in Göttingen gesucht? Diejenigen, die sich für den Oberbürgermeister-Posten interessieren, haben sich oder wollen sich mit mir unterhalten. Ich bin ja noch, werde das bis nach der Kommunalwahl bleiben, Vorsitzender eines größeren Ortsvereins; da fühle ich mich verpflichtet durchzuhalten. Das wird eine entscheidende Wahl sein. Ein echter new deal, so schätze ich das ein. Verloren hat die SPD das noch nicht, kommunal ist sie anders aufgestellt als auf der Bundesebene. Ich glaube schon, dass ich auf bestimmte Dinge Einfluss nehmen kann – im Kulturbereich fragt die Partei immer ab, was ich davon halte. Lesen Sie auch: Wettig im Amt bestätigt Sie erreichen den Autor unter: E-Mail: c.oppermann@goettinger-tageblatt.de Twitter: https://twitter.com/tooppermann Facebook: https://www.facebook.com/christoph.oppermann Von Christoph Oppermann