Wohngruppen-Bewohner übt Kritik an Betreuung bei Göttinger Werkstätten

Unzufrieden ist Harald M. mit seiner derzeitigen Lebens- und Wohnsituation. Der junge Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weil er Nachteile befürchtet, wohnt in einer betreuten Wohngruppe (WG) der Göttinger Werkstätten. Vor drei Jahren hat er die WG gewechselt. Seither kamen und gingen Mitbewohner. Das ist nicht ungewöhnlich, was ihn ärgert, ist die Zusammensetzung seiner Wohngruppe. Egal, ob der eine zum anderen passe, ganz gleich, welche Erkrankungen, Beeinträchtigungen, Behinderungen oder Süchte die Bewohner haben: es werde zusammengewürfelt, wie es gerade kommt. Mehr zum Thema: So ebnen die Göttinger Werkstätten Wege in den Arbeitsmarkt „Ich kann mich nicht um die Leute kümmern, kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, welche Medikamente sie brauchen und wann sie die nehmen müssen“, verdeutlicht Harald M. eines seiner Probleme. Es komme auch vor, dass jemand den Kühlschrank leer esse oder etwas offenbar aufgrund von Diebstahl wegkomme. Letztlich stehe dann Aussage gegen Aussage. Sage er etwas zur WG-Zusammensetzung, heiße es, das sei kein Wunschkonzert. Nimmt Arbeitsbelastung zu? Auch die Qualität der Betreuung habe nachgelassen, wohl deshalb, weil die Fluktuation des Personals ebenso zugenommen hat wie die Arbeitsbelastung für die Betreuer, schätzt Harald M. ein. Die Krankmeldungen würden sich häufen. Offenbar sei dann nicht einmal mehr die Zeit, dass Betreuer bei neuen Bewohnern die Arztbriefe lesen. „Das ist jedenfalls meine Beobachtung.“ Zur Seite gestellt bekommen die WG-Bewohner neben den sozialen Betreuern, die in Diensten der Göttinger Werkstätten stehen, auch rechtliche Betreuer. Der für Harald M. zuständige, vom Gericht beauftragte Betreuer sagt: „Ich finde es ungewöhnlich, dass sich Herr M. an die Zeitung wendet.“ Das sei eine bloße Feststellung, keine Wertung. Hinsichtlich der WG-Betreuung stimmt er seinem Schützling zu. „Da ist ziemlich der Wurm drin. Prinzipiell halte ich aber sehr viel von den Göttinger Werkstätten.“ Harald M. indes ist überzeugt: „Es fehlt an Fachleuten. Die, die arbeiten, sind überfordert. Ich weiß von Mitbewohnern, die lange Zeit keinen Betreuer gesehen haben.“ Rückgang an Fachkräften: Der vom Tageblatt angefragte Geschäftsführer der Göttinger Werkstätten, Holger Gerken, erklärt: „Für eine gemeinnützige GmbH mit unserer Größe haben wir eine eher unterdurchschnittliche Personalfluktuation. Bisher konnten wir alle ausgeschriebenen Stellen kurz- bis mittelfristig besetzen. Natürlich bekommen auch wir die Veränderungen in Bezug auf Fachkräfte bei Stellenbesetzungen zu spüren.“ Es scheinen immer weniger Menschen bereit zu sein, einen sozialen Beruf zu erlernen oder zu studieren, folgert Gerken. Gleichzeitig bestehe durch eine deutliche Zunahme von Betreuungsangeboten in unterschiedlichsten Handlungsfeldern der sozialen Arbeit eine große Nachfrage nach qualifiziertem Fachpersonal. „Wir spüren diese Auswirkungen in der Bewerbungslage besonders in den Handlungsfeldern, in denen außerhalb der Regelarbeitszeiten, etwa im Schichtdienst, gearbeitet wird“, legt der Geschäftsführer dar. Die Fachkräfteproblematik sei mit der in der Pflege zu vergleichen, „wobei im Bereich Pflege die Arbeitsbelastung der Fachkräfte in vielerlei Hinsicht noch höher ist, als in unseren Einrichtungen“. Bewohner dürfen viel mitbestimmen: Die Ziele und Wünsche der Menschen mit einer Behinderung seien Grundlage aller Teilhabeangebote. „Aus diesem Grund werden alle unsere Angebote unter hoher Mitbestimmung und personenzentriert umgesetzt“, hebt Gerken hervor. Neben dieser „kontinuierlichen Mitbestimmung“ im Rahmen der Hilfeplanung (unter Federführung des Leistungsträgers), erfolge eine Mitsprache der Menschen mit einer Behinderung durch den Werkstattrat im Arbeitsbereich, den Bewohnervertretungen in den Wohnformen und einem derzeit eingeführten Bewohnerbeirat in den unterstützen Wohnformen (WGs). Die Göttinger Werkstätten gGmbH ist nach eigenen Angaben ein Sozialdienstleister mit insgesamt 390 Mitarbeitenden. In den Bereichen Arbeit und Wohnen werden über 1000 Plätze unterschiedlichster Assistenz- und Beschäftigungsangebote für erwachsene Menschen mit einer Behinderung angeboten. Im Rahmen der Personalstrategie sei die fachliche Weiterentwicklung, aber auch die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden nach Aussage des Geschäftsführers Holger Gerken ein wichtiges Thema. Die gemeinnützige GmbH ist seit 2013 TOPAS zertifiziert: Top-Arbeitgeber. Supervision ist ein fester Bestandteil der Arbeit der Mitarbeiter und werde in vielen Bereichen verpflichtend realisiert. Die Entlohnung erfolge im Rahmen eines Haustarifvertrages, dessen Steigerung in den vergangenen Jahren über die tarifliche Entwicklung hinausging. Weitere Entlohnungsbestandteile sind Sonderzahlungen und leistungsorientierte Bezahlung. Die Göttinger Werkstätten bieten eine betriebliche Altersvorsorge an. „Bei der Zusammensetzung der Wohngemeinschaften wird immer auch auf die Wünsche und Vorstellungen der Mitbewohner und Mitbewohnerinnen eingegangen“, erklärt der Chef. Bei der letztlichen Entscheidung würden jedoch auch fachliche und wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle spielen. Auf besondere Ereignisse werde immer umgehend durch die Mitarbeiter reagiert. „Konzeptionell bieten wir WG-Stunden an, obgleich diese nicht von den Leistungsträgern finanziert werden“, so Gerken. Tendenziell neige die öffentliche Hand eher dazu, Kosten im Bereich der Eingliederungshilfe zu senken, bilanziert er. Lesen Sie auch: Göttinger Werkstätten veranstalten erste Zukunftsmesse für Menschen mit Behinderung Kooperation: Göttinger Werkstätten und Berufsakademie rücken näher zusammen Mitarbeiter der Göttinger Werkstätten bauen 50 Nistkästen Von Ulrich Meinhard

Fachkräftemangel - Göttinger Werkstätten: Bewohner übt scharfe Kritik an der Betreuung