Zeitzeugin berichtet in Göttingen über die Verschleppung ihrer Familie zur Nazi-Zeit

Geschichtsstunde mit Zeitzeugin. Einen Eindruck davon, was Unrecht, Willkür, Unterdrückung, was Diktatur bedeutet, die von einem Staatswesen ausgeht, haben am Montagabend mehr als 300 Gäste einer Veranstaltung im Alten Rathaus bekommen. Das Göttinger Bündnis „27. Januar“ hatte anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz die aus Kärnten (Österreich) stammende Katja Sturm-Schnabl eingeladen. Sie erlebte als Kind die Deportation ihrer Familie in Zwangsarbeitslager. Es war der 14. April 1942, ein Donnerstag. Es war Markttag in Klagenfurt. Die damals sechsjährige Katja spielte mit ihren drei Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof. „Plötzlich stürmten Bewaffnete herein und brüllten. Das war das einschneidendste Erlebnis meines Lebens.“ Es ist still im Saal des Alten Rathauses, wenn Katja Sturm-Schnabl berichtet, wie sie die Zeit des Nationalsozialismus erlebt hat. „So etwas wird man nie wieder los“: Es sei ein Schock für sie gewesen, erzählt sie, erfahren zu müssen, dass ihr Vater, der eine Respektsperson war, sie nicht mehr beschützen konnte, mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter von einem Moment zum nächsten verhärtete, ihre Großmutter offenbar den Verstand verlor. Sie sieht noch die Furcht, das Entsetzen in den Augen der Tanten und Mägde, die zum Hof gehörten. Deportiert, verschleppt, entrechtet, entwürdigt allesamt nur deshalb, weil sie Slowenen waren, eine ethnische Minderheit in Österreich. „Da waren diese SS-Leute, die immer rumgebrüllt haben. Die sind mit uns umgegangen, als wären wir Dreck. Diese Entwürdigung habe ich unheimlich stark empfunden. So etwas bleibt in einem drin, das wird man nie mehr los“, sagt die heute fast 84-Jährige. Ihr Vater kam in ein Zwangsarbeitslager in Karlsruhe, die Mutter mit den Kindern zuerst in ein Lager in der Nähe von Stettin, dann in ein Lager in Eichstätt (Bayern). Ob es wenigstens ein bisschen Menschlichkeit gegeben habe vonseiten der Bewacher, will jemand im Publikum wissen. Sturm-Schnabl überlegt, schüttelt den Kopf. „Vielleicht außerhalb des Lagers, in der Stadt“, vermutet sie anhand der Berichte, die sie von ihrer Mutter erhielt, die in einer Fabrik arbeiten musste. Sie selbst war im Lager eingesperrt und wie auch die anderen Kinder sich selbst überlassen. Was ihr Mut gemacht habe, kommt eine andere Frage. „Ich dachte immer an Zuhause. An das Essen dort“, lautet ihre Antwort. Schwester stirbt im Lager: Sie habe sich in den dreieinhalb Jahren Lager den Kopf darüber zerbrochen, um was für eine Spezies es sich bei den Bewachern und Peinigern mit ihren ständig krächzenden Stimmen nur handeln könnte. „Menschen konnten es nicht sein, Menschen verhalten sich nicht so. Tiere können es auch nicht sein, die kannte ich vom Bauernhof. Als Herrenmenschen habe ich sie nicht gesehen. Ich habe sie verachtet.“ Nach dem Tod der Schwester habe ihre Mutter zeitlebens nie wieder gelächelt. Das Gespräch mit Sturm-Schnabl führen neben Dietmar Sedlaczek, er ist Leiter der KZ-Gedenkstätte Moringen, die Schülerinnen des Hainberggymnasiums Nelli Salgado Scharf und Emmelie Hartge. Sie engagieren sich im Jugendforum der Partnerschaft für Demokratie. In der Gruppe hatten sie im Vorfeld Fragen gesammelt, die sie der Zeitzeugin nun stellen. Spürbar ist der große Respekt der beiden vor dem Leben dieser Frau. Spürbar ist auch die Dankbarkeit der Zuhörer, dass sie teilhaben können an den Schilderungen einer Zeitzeugin. Zeitlebens keine Festanstellung: Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Kärnten zurück. Katja Sturm-Schnabl holte die Schulausbildung nach, studierte Slawistik, sie hat promoviert und habilitiert. Seit 1984 lehrte und forschte sie an der Universität Wien. Ihr Forschungsgebiet war die südslawische Literatur- und Kulturgeschichte und deren Bedeutung im Dialog von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft in Österreich. Ihr wissenschaftliches Hauptwerk ist eine dreibändige Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška. Katja Sturm-Schnabl erhielt Auszeichnungen, etwa das Goldene Verdienstabzeichen der Republik Österreich. So ist denn heute, 75 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, alles gut? Sturm-Schnabl fasst es – auch das, was sie an menschlich Negativem nach dem Krieg erlebte – in einem Satz zusammen, der noch immer gelte: „Eigentlich sind die Slowenen lästig, weil sich Österreich als deutscher Staat versteht.“ Sie habe, trotz Habilitation, nie eine Festanstellung erhalten. Von Ulrich Meinhard

NS-Zwangsarbeit - Zeitzeugin berichtet im Alten Rathaus Göttingen über Nazi-Zeit