Die Shanty-Chöre in Göttingen und Hann. Münden, Corona

Chöre haben es nicht leicht in einer Welt, die seit fast einem Jahr fest in der Hand eines Coronavirus ist. Chöre mit Mitgliedern vorwiegend älteren Semesters haben es aber besonders schwierig. Diese Erfahrung mussten und müssen auch die Shanty-Chöre in Göttingen und der Region machen: Seit fast einem Jahr herrscht bei den Chören in Göttingen, Duderstadt und Hann. Münden Flaute. So heißt es für die begeisterten Seemannslieder-Sänger abwarten – oder auf einen Hoffnungsschimmer setzen: Shantys erfreuen sich plötzlich einer ungeahnten Beliebtheit bei jüngeren Menschen, und der Grund dafür heißt TikTok. Die Geschichte der Shanty-Chöre seit Beginn der Pandemie ist schnell erzählt: Mit dem ersten Lockdown im Frühjahr war es mit Auftritten und Proben im Wesentlichen vorbei. Von den Problemen, die dann auf die Chormitglieder zukamen, können Männer wie Holger Quentin vom Shanty-Chor der Marinekameradschaft Göttingen, Peter Palmai vom Shanty-Chor Duderstadt, Hans-Jürgen Ries vom Shanty-Chor Landwehrhagen und Hartmut Arend von den „Tampenjungs“ aus Gimte im übertragenen Sinne ein Lied singen. Mit Corona kam der Stillstand für die Shanty-Chöre: „Unser Chor hat 37 Sänger und sieben Musikerinnen und Musiker. Der älteste Sänger ist 88 Jahre alt, unser Altersdurchschnitt liegt irgendwo bei Mitte 70“, fasst Quentin die Lage zusammen. An Proben war also zunächst nicht mehr zu denken, als das Virus kam – von Auftritten ganz zu schweigen. Im Sommer habe man dann außerhalb des Vereinsheims des MTV Geismar geübt, und zwar in mehrere Gruppen aufgeteilt, berichtet Quentin – auf Dauer kein Zustand, zumal verschiedene Konzepte sich als schlicht unzweckmäßig herausgestellt hätten. Als man sich dann irgendwann eingespielt hatte, kam der Herbst – und mit ihm der neue Lockdown. Die Enttäuschung sei groß, berichtet Quentin. „Das Jahr 2020 begann völlig normal“, blickt Palmai zurück. Zehn Auftritte für das weitere Jahr seien im Frühjahr bereits geplant gewesen, darunter das 2. Duderstädter Shanty-Chor-Festival im August. Sieben Chöre hätten dafür bereits zugesagt gehabt, berichtet Palmai – und dann „traf uns der Lockdown mit voller Wucht.“ Ab August habe man zwar unter strengen Hygienestandards wieder geprobt – im Hotel „Zum Löwen“ statt im üblichen Übungsraum, da dieser zu klein gewesen wäre –, doch auch diese Phase fand mit dem nächsten Lockdown ein jähes Ende. Immerhin: Die Vereinsfahrt nach Potsdam und in den Spreewald, so Palmai, habe man mit Verspätung im September antreten können. „Uns fehlt etwas“, sagt Hans-Jürgen Ries, stellvertretender Vorsitzender des Shanty-Chors Landwehrhagen (Hann. Münden). Eigentlich hatte sein Chor 2020 mit bis zu 40 Auftritten gerechnet – am Ende waren es null. Denn: „Für uns ist klar, dass Gesundheit Vorrang haben muss.“ Im Sommer habe man sich zweimal draußen getroffen – aber auch in Landwehrhagen mussten die Sänger feststellen: Draußen und in kleinen Gruppen proben, das funktioniert nicht. Lesen Sie auch Seemannslieder im Trend: Ein Sturm von Shantys erobert das Internet Schulchöre in Göttingen stehen wegen Corona vor ungewisser Zukunft Musik auf Abstand: Wie proben Göttinger Bands in Zeiten von Corona? Ohnehin in einer schwierige Lage seien schon vor Corona die „Tampenjungs“ gewesen, sagt Arend. Dann fielen sämtliche Konzerte aus – und ein geplanter Segel-Törn auf Nord- und Ostsee ebenfalls. So habe die Gemeinschaft, die Shanty-Chöre auszeichnet, gelitten – obwohl man versuche, sich so viel wie möglich zu treffen: „Wir haben Angst, dass sich unsere Gemeinschaft durch die Pandemie auseinander dividieren lässt.“ Auch digitale Treffen – die „Tampenjungs“ trafen sich mehrfach zum Video-Chat – hätten sich nicht als geeignete Grundlage für gemeinsames Singen herausgestellt. Auftrieb für Shanty-Chöre dank TikTok? Ein Jahr Flaute also – doch seit einigen Wochen weht plötzlich ein frischer, digitaler Wind durch die Welt der Shantys: Menschen singen auf der Video-Plattform TikTok gemeinsam Seemannslieder. Diesen Trend nimmt man in den Shanty-Chören der Region wahr – und verbindet vorsichtige Hoffnungen mit ihm. „Dieser Trend kann möglicherweise Interesse bei manchen wecken, selbst aktiv zu werden“, hofft Quentin, schränkt aber auch ein: „Auch die Gruppe Santiano hat große Euphorie geweckt, doch bei den Shanty-Chören ist davon nicht viel angekommen.“ Die Hürde, sich regelmäßig in Proben einzubringen, sei wohl doch für die meisten Menschen zu hoch. TikTok ist ein Videoportal für die Synchronisation von Musikvideos und Videoclips, das zusätzlich Funktionen eines sozialen Netzwerks anbietet. Nutzer können dort Videos hochladen, die mit Musik untermalt sind, Filmszenen nachstellen, tanzen oder singen. Die Clips können dann mit anderen geteilt werden – ein Angebot, das vor allem junge Menschen wahrnehmen und sich als sogenannte „Influencer“ versuchen, denen online Tausende folgen. Der Trend, auf TikTok gemeinsam Shantys zu singen, wurde offenbar ausgelöst durch einen schottischen Briefträger: Der 26-jährige Nathan Evans stellte eine A-Capella-Version des neuseeländischen Walfängerlieds „Wellerman“ online – und das Video wurde zum Internet-Hit. Über die sogenannte „Duett-Funktion“ von TikTok sang Evans die Strophen als Solo-Stimme, bei den Refrains legte er mehrere Aufnahmen übereinander, sodass es wie ein Chor klang. Diese Funktion von TikTok nutzen seitdem Nutzer auf der ganzen Welt, um ihre Stimmen für „Wellerman“ und andere Seemannslieder zusammenzulegen oder die Aufnahmen neu abzumischen. In Duderstadt steht man dem Trend distanziert gegenüber: „Das Internet ist nicht für alle von uns erreichbar und außerdem zu unpersönlich“, sagt Palmai. Man halte zwar Kontakt über verschiedene Kommunikationskanäle, aber von Voraussetzungen für gelungene Proben könne nicht die Rede sein. Andere wurden schon vor dem TikTok-Trend online aktiv: Vor Weihnachten hätten die „Tampenjungs“ an einem singenden Adventskalender in einer deutschlandweiten Facebook-Gruppe für Shanty-Chöre teilgenommen, berichtet Arend. Eine „schöne Erinnerung an Zeiten ohne Corona-Bremse“ sei das gewesen. Shanty-Chöre trotzig-optimistisch: „Es wird weitergehen“: Noch aber bremst Corona die Chöre weiter aus. „Das sind eineinhalb Jahre verschenkter Zeit, die für manchen vielleicht nicht mehr aufzuholen sind“, klagt Quentin. Das gemeinsame Singen fördere die Kameradschaft, helfe dabei, geistig aktiv zu bleiben, bringe die Musiker mit ihrem Publikum zusammen – all das fehle jetzt. So gibt sich Quentin auch kämpferisch: „An uns soll es nicht liegen – wir brennen darauf, endlich wieder loszulegen.“ Geselligkeit und der Spaß beim gemeinsamen Singen spielten eine bedeutende Rolle im Vereinsleben, betont Palmai. Momentan aber bleibe nur die Hoffnung auf die Zukunft – erste Auftritte für den weiteren Jahresverlauf seien in Planung, unter anderem solle das Shanty-Chor-Festival nachgeholt werden. Anspruchsvoll dürfte der Neustart für die Shanty-Chöre auf jeden Fall werden. „Alle Sänger stehen in den Startlöchern“, sagt Ries, weiß aber auch: „Wir müssen schauen, auf welchem Level wir uns dann bewegen. Mit entsprechendem Nachholbedarf könnte ein Neuanfang gelingen.“ Auch die „Tampenjungs“, ist Arend überzeugt, werden sich nicht unterkriegen lassen: „Bei uns wird es weitergehen, auch wenn es schwer ist. Wir ziehen doch alle an einem Strang.“ Von Tammo Kohlwes

Die Shanty-Chöre in Göttingen und Hann. Münden, Corona - und TikTok